OLG Naumburg
Beschluss
vom 17.12.2021
7 Verg 3/21
Eine Aufhebung der Ausschreibung wegen grundlegender Änderung der Vergabeunterlagen nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2019 kann ausnahmsweise auch bei einer massiven Verschiebung der Ausführungszeit des Bauauftrags gerechtfertigt sein, wenn besondere Umstände hinzutreten.*)
vorhergehend:
VK Sachsen-Anhalt, 04.10.2021 - 1 VK LSA 10/21
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den am 4. Oktober 2021 verkündeten Beschluss der 1. Vergabekammer des Landes Sachsen-Anhalt wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Auslagen des Antragsgegners zu tragen.
Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird auf eine Gebührenstufe bis zu 19.000,00 festgesetzt.
Gründe
A.
Der Antragsgegner, ein Landkreis, leitete durch die Absendung des Bekanntmachungstextes am 05.05.2021 die EU-weite Ausschreibung des Bauauftrages "Gymnasium W., Ersatzneubau, Los 9 WDVS" im Offenen Verfahren auf der Grundlage der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) - Ausgabe 2019 - ein. Der Auftrag ist Bestandteil eines Bauvorhabens im Umfang von mehr als 7 Mio. Euro und wird überwiegend mit Finanzmitteln des Bundes gefördert. Der Auftraggeber schätzte den Umfang des Auftrags für Los 9 auf ca. 225.000,00 brutto. Die Auftragsbekanntmachung wurde am 10.05.2021 veröffentlicht.
In der Auftragsbekanntmachung wurde als Ausführungsfrist die Zeit vom 27.08.2021 bis zum 23.12.2021 angegeben (Ziffer II.2.7). Als Schlusstermin für den Eingang der Angebote wurde der 14.06.2021, 10:00 Uhr, bestimmt (Ziffer IV.2.2), zum selben Zeitpunkt sollte die Angebotsöffnung erfolgen (Ziffer IV.2.7).
Die Formblätter 224 - "Angebot Lohngleitklausel" -, 225 - "Stoffpreisgleitklausel - Einheitliche Fassung" und 228 - "Stoffpreisgleitklausel Nichteisenmetalle" - waren nicht Bestandteil der Vergabeunterlagen. Das Formblatt 214 - "Besondere Vertragsbedingungen" - enthielt keine Vereinbarung zu Preisanpassungen.
Im Rahmen der Ausschreibung ließen sich 20 Unternehmen anlässlich des Downloads der Vergabeunterlagen registrieren.
Der Antragsgegner hob das Vergabeverfahren am 14.06.2021 vor dem Zeitpunkt des Angebotsöffnungstermins um 10.00 Uhr auf. Mit seinem Schreiben vom selben Tage, über die Vergabeplattform abgesandt um 09.29 Uhr, informierte der Antragsgegner die Bieter, darunter die Antragstellerin, darüber, dass das Vergabeverfahren aufgehoben worden sei, weil eine grundlegende Änderung der Vergabeunterlagen wegen einer Verschiebung der Ausführungsfrist um sechs Monate erforderlich sei. Am selben Tag sandte er auch eine Bekanntmachung der Aufhebung ab, welche am 18.06.2021 EU-weit veröffentlicht wurde.
Bis zum Zeitpunkt der Aufhebung der Ausschreibung waren insgesamt acht Angebote eingegangen, darunter das Angebot der Antragstellerin vom 02.06.2021 mit einem Angebotsendpreis von 323.058,82 brutto.
Die Antragstellerin rügte mit anwaltlichem Schriftsatz vom 17.06.2021 die Aufhebung des Vergabeverfahrens als vergaberechtswidrig und machte geltend, dass weder der angegebene noch sonst ein rechtmäßiger Grund für eine Aufhebung der Ausschreibung vorliege.
Der Antragsgegner half dieser Rüge nicht ab und teilte der Antragstellerin mit ihrem Schreiben vom 21.06.2021 mit, dass die mit den Rohbauleistungen beauftragte Bauunternehmung am 03.06.2021 vorab mündlich eine erhebliche Verzögerung mit der Fertigstellung der Leistungen angezeigt habe und hieraus massive Bauzeitverschiebungen für die Folgegewerke resultierten. Der Antragsgegner stellte die Neuausschreibung des Bauauftrags in einem erneuten Offenen Verfahren in Aussicht.
Mit Schriftsatz vom 01.07.2021 hat die Antragstellerin die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens bei der Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt mit dem Ziel beantragt, dass der Antragsgegner verpflichtet werden möge, das ursprüngliche Vergabeverfahren fortzusetzen.
Der Antragsgegner hat darauf verwiesen, dass angesichts der Preisentwicklungen bei den Baustoffkosten kein Unternehmen eine Preisgarantie für mehr als ein halbes Jahr geben könne. Im ausgeschriebenen Vertrag seien keine Vorkehrungen für unerwartete Preissteigerung getroffen worden, insbesondere sei keine Preisgleitklausel enthalten. Der Fördermittelgeber habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Kostenerhöhungen aufgrund von Materialpreissteigerungen nicht förderfähig seien, wenn im Vertrag keine diesbezüglichen Zusatzvereinbarungen getroffen worden seien. Der Antragsgegner hat weiter darauf verwiesen, dass zu erwarten sei, dass im Rahmen einer Neuausschreibung zu einem späteren Zeitpunkt ein veränderter Bieterkreis teilnehmen werde. Die Aufhebungsentscheidung sei zeitlich vor dem Öffnungstermin und ohne Kenntnis von den Angebotspreisen getroffen worden, um das Gleichbehandlungsgebot zu wahren.
Der Vorsitzende der Vergabekammer hat die am 05.08.2021 ablaufende Entscheidungsfrist mit seiner Verfügung vom 03.08.2021 bis zum 09.09.2021 und mit seiner Verfügung vom 07.09.2021 bis zum 14.10.2021 verlängert.
Die Vergabekammer hat mit ihrem Schreiben vom 23.08.2021 darauf hingewiesen, dass ihres Erachtens zwar keine grundlegende Änderung der Vergabeunterlagen vorläge, der Sachverhalt aber als ein anderer schwerwiegender Grund für eine Aufhebung i.S.v. § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A zu bewerten sei. Hiergegen hat die Antragstellerin Einwendungen erhoben.
Mit Beschluss vom 06.09.2021 hat die Vergabekammer der Antragstellerin auf deren Antrag eine eingeschränkte Einsicht in Unterlagen der Vergabedokumentation gewährt; wegen des Umfangs wird auf den Inhalt des Beschlusses sowie auf die in der Verfahrensakte des Nachprüfungsverfahrens enthaltenen Kopien der übersandten Unterlagen (BeiA Bl. 134 ff.) Bezug genommen.
Die Vergabekammer hat mit ihrem Beschluss vom 04.10.2021 den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ohne mündliche Verhandlung als unbegründet zurückgewiesen. Sie stützt ihre Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass offenbleiben könne, ob die Aufhebung auf § 17 EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A gestützt werden könne, und insbesondere auch, welchen Umfang die angedachten Änderungen der Vergabeunterlagen gehabt hätten. Der vom Antragsgegner angeführte Aufhebungsgrund sei - nach korrigierender rechtlicher Einordnung - jedenfalls nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A gerechtfertigt. Die Aufhebung sei Ausdruck der vom Antragsgegner angestrebten Erfüllung der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zur Haushaltsdisziplin, die nur zu wahren sei, wenn der Vertragsschluss zeitnah vor der Ausführungszeit erfolge.
Am 14.10.2021 leitete der Antragsgegner ein erneutes Offenes Verfahren zur Vergabe des o.g. Bauauftrages unter Angabe eines um ca. 26,6 % erhöhten Auftragswerts bei gleichbleibendem Leistungsumfang ein. Als Ausführungszeit legte er den Zeitraum vom 21.03.2022 bis zum 11.08.2022 fest (Ziffer II.2.7 der Auftragsbekanntmachung). Der Schlusstermin für die Abgabe der Angebote wurde auf den 22.11.2021, 10:00 Uhr, bestimmt (Ziffer IV.2.2). Die hiesige Antragstellerin gab in diesem Verfahren ebenfalls ein Angebot ab.
Gegen die vorgenannte, ihr am 11.10.2021 zugestellte Entscheidung der Vergabekammer richtet sich die mit Schriftsatz vom 25.10.2021 erhobene und am selben Tage per beA beim Oberlandesgericht Naumburg eingegangene sofortige Beschwerde der Antragstellerin.
Die Antragstellerin rügt in verfahrensrechtlicher Hinsicht die Unterlassung einer mündlichen Verhandlung. Sie vertritt die Auffassung, dass die Vergabekammer nicht berechtigt gewesen sei, den vom Antragsgegner angeführten Aufhebungsgrund "auszutauschen" und ihre eigene Ermessensentscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung des Antragsgegners zu setzen. Die Antragstellerin bestreitet die Behauptung des Antragsgegners, dass eine Fortsetzung des Vergabeverfahrens nicht in Betracht komme, weil eine Öffnung der auf der eVergabe-Plattform eingegangenen Angebote inzwischen technisch nicht mehr möglich sei. Die Vergabekammer sei zu Unrecht von einer Rechtmäßigkeit der Aufhebung ausgegangen. Die angeführte Bauzeitverschiebung sei nicht als anderer schwerwiegender Grund i.S.v. § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A zu qualifizieren, weil die Verschiebung um sechs Monate schon nicht schwerwiegend und jedenfalls auch innerhalb eines bestehenden Vertrages kompensierbar sei. Eine gravierende Änderung der Preisermittlungsgrundlage sei vom Antragsgegner nicht, jedenfalls nicht mit Substanz dargelegt worden.
Für ihren Feststellungsantrag bestehe ein Feststellungsinteresse, weil sie beabsichtige, gegen den Antragsgegner Schadensersatzansprüche wegen einer rechtswidrigen Aufhebung geltend zu machen.
Die Antragstellerin beantragt zuletzt, insoweit auf einen gerichtlichen Hinweis reagierend,
den Beschluss der 1. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt vom 04.10.2021, 1 VK LVwA 10/21, aufzuheben und
2. den Antragsgegner zu verpflichten, die Aufhebung des Offenen Verfahrens für die Vergabe der Bauleistungen Ersatzneubau ... Gymnasium W., Los 9 - Wärmedämmverbundsystem, vom 14.06.2021 aufzuheben und das Vergabeverfahren in den Stand vor Aufhebung der Ausschreibung vom 14.06.2021 zurückzuversetzen und fortzuführen,
3. hilfsweise zu Ziffer 2. für den Fall der Wirksamkeit der Aufhebung, festzustellen, dass die Antragstellerin durch die Aufhebung des Vergabeverfahrens vom 14.06.2021 in ihren subjektiven Rechten verletzt ist,
hilfsweise zu Ziffer 2. für den Fall einer fehlerhaften Ermessensausübung, den Antragsgegner zu verpflichten, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats über die Sache neu zu entscheiden.
Der Antragsgegner beantragt,
die sofortige Beschwerde der Antragstellerin zurückzuweisen.
Er verteidigt im Wesentlichen die angefochtene Entscheidung und vertieft u.a. die Ansicht, dass unter Berücksichtigung der aktuellen Situation ein schwerwiegender Grund in einer Bauverzögerung um mehr als sechs Monate liege, weil Lieferengpässe für Baumaterialien Einfluss auf die Leistungsfähigkeit von Unternehmen und insbesondere auf die Baustoffpreise hätten und er im Hinblick auf die Finanzierung des Bauvorhabens mit Zuwendungen jedes förderschädliche Verhalten vermeiden müsse.
Der Senat hat am 17.12.2021 einen Termin der mündlichen Verhandlung durchgeführt; wegen des Inhalts der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll vom selben Tage Bezug genommen.
B.
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig, sie hat aber in der Sache keinen Erfolg.
Die Vergabekammer ist zu Recht von der Unbegründetheit des Nachprüfungsantrages der Antragstellerin ausgegangen; die von der Antragstellerin erhobene Rüge, dass die Aufhebung der Ausschreibung vergaberechtswidrig sei, ist nicht begründet.
I. Das Rechtsmittel der Antragstellerin ist zulässig.
Es ist nach § 171 Abs. 1 GWB statthaft und wurde nach § 172 Abs. 1 bis 3 GWB frist- und formgerecht beim zuständigen Gericht (§ 171 Abs. 3 Satz 1 GWB) eingelegt.
Hinsichtlich des zu Ziffer 3. der Beschwerdeschrift gestellten Feststellungsantrages, der in seiner ursprünglichen Fassung im Rahmen eines auf Primärrechtsschutz gerichteten Nachprüfungsverfahrens unstatthaft gewesen wäre, hat die Antragstellerin auf Vorhalt des Senats klargestellt, dass der Antrag nur hilfsweise für den Fall der Erfolglosigkeit des auf einen Primärrechtsschutz gerichteten Antrags zu Ziffer 2. und des hierzu hilfsweise zu Ziffer 4. gestellten Antrags gestellt werde.
II. Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zu Recht und von den Beteiligten des Beschwerdeverfahrens nicht angegriffen als zulässig angesehen.
Die allgemeinen Voraussetzungen für einen Zugang zum vergaberechtlichen Primärrechtsschutz (vgl. insbesondere §§ 99 Nr. 1, 103 Abs. 1 und 3, 106 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 GWB) sind erfüllt. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin entspricht den formellen und inhaltlichen Anforderungen der §§ 160 Abs. 1, 161 GWB. Die Antragstellerin ist als Teilnehmerin am Vergabeverfahren antragsbefugt i.S.v. § 160 Abs. 2 GWB, hat die Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB erfüllt und die Antragsfrist nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB gewahrt. Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrages steht nicht etwa entgegen, dass der Antragsgegner die Ausschreibung des öffentlichen Bauauftrages bereits aufgehoben und damit das Vergabeverfahren vermeintlich beendet hat; die Rechtmäßigkeit und hilfsweise auch die Wirksamkeit dieser Aufhebung bilden zulässige Gegenstände des Nachprüfungsverfahrens (vgl. BGH, Beschluss v. 18.02.2002, X ZB 43/02 "Jugendstrafanstalt", BGHZ 154, 32).
III. Der Senat kann offenlassen, ob in dem Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer ohne eine mündliche Verhandlung entschieden werden durfte; jedenfalls hat der erkennende Senat eine mündliche Verhandlung der Rechtssache in der Beschwerdeinstanz durchgeführt und den Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur mündlichen Erörterung der Sach- und Rechtslage gegeben.
1. Nach § 166 Abs. 1 Satz 3 Alt. 3 GWB ist eine Entscheidung nach Lage der Akten ausnahmsweise auch "bei offensichtlicher Unbegründetheit des Antrags" zulässig. Eine solche Verfahrensweise sollte die Ausnahme bleiben (vgl. nur Schleswig-Holsteinisches OLG,
Beschluss v. 20.03.2008, 1 Verg 6/07, OLGR 2008, 493). Entgegen der Auffassung der Antragstellerin liegen die Voraussetzungen der vorgenannten Vorschrift nicht nur dann vor, wenn sich die Unbegründetheit bereits ohne weiteres aus dem Nachprüfungsantrag selbst ergibt und hierüber zügig entschieden werden kann. Es ist der Vergabekammer auch dann nicht verwehrt, nach Aktenlage zu entscheiden, wenn sich die Unbegründetheit eindeutig erst nach bereits erfolgter Übermittlung des Nachprüfungsantrages an den Antragsgegner und aufgrund einer vertieften Prüfung der Sach- und Rechtslage anhand der übersandten Vergabeakten und des Vorbringens der Verfahrensbeteiligten ergibt (vgl. OLG Naumburg, Beschluss v. 09.08.2019, 7 Verg 1/19 "Gefangenentelefoniesystem", VergabeR 2020, 521). Der Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör kann in den nach diesen Voraussetzungen geeigneten Fällen auch durch die Erteilung schriftlicher Hinweise durch die Vergabekammer gewahrt werden.
2. Ob im vorliegenden Fall eine mündliche Verhandlung entbehrlich gewesen ist, lässt der Senat offen. Zwar sind die der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachen vollständig aus der Vergabedokumentation zu entnehmen und nach der Offenlegung durch die Vergabekammer zwischen den Verfahrensbeteiligten auch unstreitig gewesen. Wie nachfolgend aufzuzeigen ist, sind Gegenstand der Nachprüfung jedoch mehrere nacheinander zu treffende und aufeinander aufbauende Wertungsentscheidungen des Antragsgegners, die sich u.U. einer Beurteilung in dem Sinne entziehen, dass sie "offensichtlich" beanstandungsfrei seien.
3. Ein etwaiger Verfahrensfehler ist jedenfalls im Beschwerdeverfahren geheilt worden.
IV. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist unbegründet. Das betrifft in erster Linie die Anträge zu Ziffern 2. und 4., welche auf einen Primärrechtsschutz in dem ursprünglichen Vergabeverfahren gerichtet sind.
1. Dabei geht der Senat von folgenden rechtlichen Maßstäben aus:
a) Nach § 17 EU Abs. 1 VOB/A 2019 kommt eine rechtmäßige Aufhebung der Ausschreibung nur dann in Betracht, wenn ein in dieser Vorschrift vorgesehener Aufhebungsgrund vorliegt. Bei der Prüfung eines zur Aufhebung berechtigenden schwerwiegenden Grundes sind nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung strenge Maßstäbe anzulegen. Die Teilnehmer dürfen darauf vertrauen, dass sie im Rahmen der vergaberechtlichen Bestimmungen eine realistische Chance auf Amortisation ihrer jeweiligen Aufwendungen zur Ausarbeitung eines sorgfältig kalkulierten Angebots haben und dass diese Chance nur unter den in § 17 EU VOB/A 2019 genannten besonderen Voraussetzungen selbst dann entfallen kann, wenn der jeweilige Bieter das wirtschaftlichste Angebot abgegeben hat. Im Interesse einer fairen Risikobegrenzung verdient der Bieter mit dem wirtschaftlichsten Angebot einen Vertrauensschutz davor, dass seine Amortisationschance nicht durch zusätzliche Risiken vollständig beseitigt wird, welche in den vergaberechtlichen Bedingungen keine Grundlage finden. Nach ihrer Funktion können die in der Vorschrift genannten Aufhebungsgründe auch nur dann eingreifen, wenn sie erst nach Beginn der Ausschreibung eingetreten sind oder dem Ausschreibenden jedenfalls vorher nicht bekannt sein konnten (vgl. BGH, Urteil v. 25.11.1992, VIII ZR 170/91, BGHZ 120, 286; BGH, Urteil v. 24.04.1997, VII ZR 106/95, BauR 1997, 636; BGH, Urteil v. 08.09.1998, X ZR 48/97, BGHZ 139, 259; BGH, Urteil v. 08.09.1998,
X ZR 99/96, BGHZ 139, 280). Ob ein anderer, also nicht ausdrücklich in der Vergabeordnung genannter schwerwiegender Grund vorliegt, welcher zur Aufhebung des Vergabeverfahrens berechtigt, ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung aufgrund einer umfassenden, alle für die Aufhebungsentscheidung maßgeblichen Umstände berücksichtigenden Interessenabwägung zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss v. 20.03.2014, X ZB 18/13 "Fahrbahnerneuerung I", VergabeR 2014, 538).
b) Die Voraussetzungen, von denen die Vorschrift eine rechtmäßige Aufhebung abhängig macht, sind von der Nachprüfungsinstanz grundsätzlich im vollen Umfange zu überprüfen. In Betracht kommt allenfalls die Einräumung eines Beurteilungsspielraums bei der Bewertung der tatbestandlichen Merkmale eines Aufhebungsgrundes. Insoweit ist die Nachprüfung der - in erster Stufe der Aufhebungsentscheidung des Auftraggebers zu treffenden - Feststellung des Vorliegens eines Aufhebungsgrundes abzugrenzen von der Nachprüfung der - in zweiter Stufe nachfolgenden - Ermessensentscheidung auf der Rechtsfolgenseite ("kann aufheben"). Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist es der Nachprüfungsinstanz danach nicht verwehrt, den vom Auftraggeber in tatsächlicher Hinsicht geltend gemachten Aufhebungsgrund rechtlich eigenständig zu bewerten und ggf. einer anderen Alternative von § 17 EU Abs. 1 VOB/A zuzuordnen.
2. Entgegen der Auffassung der Vergabekammer ist die hier nachzuprüfende Aufhebungsentscheidung wegen einer wesentlichen Änderung der Grundlage der Ausschreibung gerechtfertigt.
a) Nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2019 ist der öffentliche Auftraggeber berechtigt, ein Vergabeverfahren aufzuheben, wenn sich dessen Grundlage wesentlich geändert hat. Dieser Aufhebungsgrund ist nach dem Vorausgeführten nur gegeben, wenn die Änderung erst nach der Einleitung des Vergabeverfahrens eintritt, wenn sie nicht vom Auftraggeber selbst verursacht wurde (vgl. dazu nur OLG Naumburg, Beschluss v. 13.10.2006, 1 Verg 6/06 "BAB: Erd- und Deckenbau III", VergabeR 2007, 125), und wenn sie in dem Sinne wesentlich ist, dass sie die Durchführung des Verfahrens und die Vergabe des Auftrags selbst ausschließt (vgl. OLG Naumburg, Beschluss v. 23.12.2014, 2 Verg 5/14 "Arzneimittelversorgung", VergabeR 2015, 458).
b) Nach diesen Maßstäben ist hier Folgendes festzustellen:
aa) Im vorliegenden Fall trat die vom Antragsgegner angeführte Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens zeitlich erst nach dessen Einleitung auf und bestand auch objektiv. Die Auftragnehmerin der Rohbauarbeiten teilte am 03.06.2021 mit, dass sich die Fertigstellung der Schalungs- und Betonarbeiten zur Herstellung der Wandscheiben um ca. sechs Monate verzögern werde. An der Tragfähigkeit dieser Mitteilung bestehen keine Zweifel, insbesondere beschränkte sich die Mitteilung nicht auf einen Zuruf, sondern sie erfolgte nur "vorab mündlich" und wurde vom Antragsgegner geprüft, wie sich aus der E-Mail vom 07.06.2021 ergibt. Die Bauzeitverzögerung bedingte aus ex ante-Sicht eine Verschiebung des Ausführungsbeginns der ausgeschriebenen Arbeiten in Los 9 zur Aufbringung eines Wärmedämmverbundsystems um (mindestens) sechs Monate. Wie die Neuausschreibung zeigt, wird vom Antragsgegner inzwischen eingeschätzt, dass eine Ausführung der Arbeiten von Los 9 erst sieben Monate nach dem ursprünglich vorgesehenen Zeitraum beginnen kann.
bb) Es unterliegt hier auch keinem Zweifel, dass die vorgenannte Veränderung der Bauzeit nicht vom Antragsgegner verursacht wurde bzw. für ihn bei Beginn der Ausschreibung der Leistungen für das Los 9 vorhersehbar war. Das macht die Antragstellerin auch nicht geltend.
cc) Diese Änderung ist hier ausnahmsweise auch als eine wesentliche Änderung der Grundlagen der Vergabeunterlagen anzusehen.
(1) Allerdings können Änderungen des Leistungsinhalts eine Aufhebung nur dann rechtfertigen, wenn sie ähnlich der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) wirken und die Ausführung des Auftrags entweder nicht mehr möglich oder für den Auftraggeber bzw. für den Auftragnehmer mit unzumutbaren Bedingungen verbunden wäre (vgl. Portz in: Röwekamp/ Kus/Marx/Portz/ Prieß, VgV, 2. Aufl. 2022, § 63 Rn. 43 f. m.w.N.). Für Bauzeitverschiebungen trifft das nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich nicht zu (vgl. BGH, Urteil v. 11.05.2009, VII ZR 11/08, BGHZ 181, 47, 60; BGH, Urteil v. 22.07.2010, VII ZR 213/08 "Küstenkanal", BGHZ 186, 295; BGH, Beschluss v. 23.09.2010, VII ZR 213/08, NZBau 2010, 748; BGH, Beschluss v. 10.01.2013, VII ZR 37/11, NZBau 2013, 190). Durch die im Vertrag vorgesehene Anpassung der Bauzeit an die veränderten Bedingungen (§ 6 Abs. 2 Nr. 1 a), Abs. 4 und 5 VOB/B 2019) und selbst durch die hierdurch u.U. veranlassten Preisanpassungen (§ 2 Abs. 5 VOB/B 2019) wird der Vertrag grundsätzlich weder erweitert noch dessen wirtschaftliches Gleichgewicht gestört.
(2) Etwas Anderes gilt hier ausnahmsweise wegen der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls.
Die Verzögerung des Ausführungsbeginns betraf einerseits eine zeitlich gravierende Verschiebung von mindestens sechs Monaten und verursachte mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls eine erhebliche Steigerung der Selbstkosten des jeweiligen Auftragnehmers für den gesamten Auftrag. Es ist gerichtsbekannt, dass die durch die Corona-Pandemie verursachten Lieferkettenstörungen ab Sommer 2021 nicht nur zu einer erheblichen Zunahme der Probleme mit der Verfügbarkeit von Baumaterialien, insbesondere auch von hier benötigten Dämmstoffen, führten, sondern auch zu massiven Preissteigerungen im Einkauf dieser Materialien. Inwieweit diese erhöhten Selbstkosten auch zu erhöhten Vergütungsansprüchen des jeweiligen Auftragnehmers führen konnten, war ungewiss, so dass zu Lasten des potenziellen Auftragnehmers eine erhebliche Verschiebung der Äquivalenz des Vertragsverhältnisses drohte. Denn im ausgeschriebenen Vertrag waren die in der Bauverwaltung üblichen Besonderen Vertragsbedingungen für Preisanpassungen wegen Materialpreiserhöhungen nicht enthalten. Soweit eine Weitergabe der erhöhten Selbstkosten an den Antragsgegner durchsetzbar gewesen wäre, hätte zu Lasten des Auftraggebers eine erhebliche Erhöhung der Gesamtvergütung für den Auftrag im Raum gestanden, welche schon bei isolierter Betrachtung ausnahmsweise als eine wesentliche Änderung der Grundlagen der Vergabeunterlagen in Betracht kommt (noch offengelassen in: BGH, Urteil v. 22.07.2010, VII ZR 213/08, a.a.O.). Dies spiegelt sich im Übrigen in der Neuausschreibung des Antragsgegners wider; dort wurde der geschätzte Gesamtwert der ausgeschriebenen Leistungen ohne Veränderungen des Leistungsumfangs um 26,6 % erhöht. Die hier durch hinreichende Anhaltspunkte untersetzte erhebliche Preissteigerung hätte, wie die Vergabekammer zutreffend festgestellt hat, im Widerspruch zu den öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen des Antragsgegners zur Haushaltsdisziplin, zur Gewährleistung der Berechenbarkeit der finanziellen Belastungen der öffentlichen Hand und zur Einhaltung der zuwendungsrechtlichen Auflagen gestanden. Der zuletzt genannte Umstand wäre geeignet gewesen, die Finanzierung des ausgeschriebenen Auftrags zu gefährden.
Anderseits betraf die Bauzeitverschiebung eine Verschiebung von der zweiten Jahreshälfte des laufenden Kalenderjahres in das Frühjahr und den Sommer des nächsten Kalenderjahres und damit in eine Zeit, welche typischerweise mit einer höheren Auslastung der Baukapazitäten des angesprochenen Bieterkreises verbunden ist. Im Falle eines "frühen" Zuschlags wäre der Antragsgegner mit den erheblichen Risiken einer wegfallenden Leistungsfähigkeit des Auftragnehmers konfrontiert gewesen.
Hinzu kommt schließlich, dass sich der Antragsgegner wegen der Dauer der Verschiebung von mehr als sechs Wochen bereits zu Beginn der Ausführung durch eine Zuschlagserteilung keinen durchsetzbaren Anspruch auf Ausführung der ausgeschriebenen Leistungen verschaffen konnte, denn nach § 6 Abs. 7 VOB/B 2019 wäre für jede der Vertragsparteien, auch für den Auftragnehmer, ein eigenständiges Kündigungsrecht begründet worden. Im Falle einer Kündigung durch den Auftragnehmer wäre er dessen Vergütungsansprüchen ausgesetzt, weil der Auftragnehmer die Bauzeitverzögerung nicht zu vertreten hatte.
In der Gesamtschau dieser Situation hätte ein Zuschlag auf ein ursprünglich und unter anderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abgegebenes Angebot für beide Vertragsparteien erhebliche Unwägbarkeiten bedeutetet, was die Bewertung rechtfertigt, dass hier in der massiven Verschiebung der Bauzeit eine vertragswesentliche Änderung lag.
dd) Nur ergänzend ist darauf zu verweisen, dass die Vorschrift des § 132 GWB, welche den Umgang mit wesentlichen Änderungen während der Vertragslaufzeit regelt, hier weder direkt anwendbar ist, weil sie eine Neuausschreibungspflicht nach bereits erfolgter Zuschlagserteilung betrifft, noch analog anwendbar ist (vgl. OLG Celle, Beschluss v. 24.10.2019, 13 Verg 9/19, VergabeR 2020, 230 ähnlich bereits BGH, Urteil v. 22.07.2010, VII ZR 213/08, a.a.O).
3. Der Antragsgegner hat die bei dem Vorliegen eines Aufhebungsgrundes nach § 17 EU Abs. 1 VOB/A 2019 zu treffende Ermessensentscheidung in nicht zu beanstandender Weise getroffen.
a) Der öffentliche Auftraggeber ist auch bei dem Vorliegen eines Aufhebungsgrundes nicht stets zur Aufhebung verpflichtet, sondern nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift "kann" er die Ausschreibung aufheben. Die Ausübung dieses Ermessens kann von den Nachprüfungsinstanzen nur eingeschränkt darauf überprüft werden, ob der Auftraggeber sein Ermessen ausgeübt hat, ob er in seine Ermessensausübung sämtliche für und wider eine Aufhebung der Ausschreibung sprechenden Umstände einbezogen hat und ob er mit seiner Entscheidung den Ermessensspielraum und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (vgl. nur OLG Naumburg, Beschluss v. 13.10.2006, 1 Verg 7/06 "BAB: Erd- und Deckenbau IV".; OLG Koblenz, Beschluss v. 23.12.2003, 1 Verg 8/03, VergabeR 2004, 244,; OLG Celle, Beschluss v. 10.06.2010, 13 Verg 18/09, in; OLG München, Beschluss v. 31.10.2012, Verg 19/12 "Kinderpalliativzentrum", VergabeR 2013, 487.
b) Nach diesen Maßstäben begegnet die Aufhebungsentscheidung vom 14.06.2021 keinen Bedenken.
aa) Im vorliegenden Fall steht die aktive Ermessensausübung des Antragsgegners nicht im Zweifel und ist in ihren Grundzügen auch hinreichend dokumentiert. Unabhängig von der rechtlichen Zuordnung des von ihm in Anspruch genommenen Aufhebungsgrundes hat der Antragsgegner die für und wider eine Aufhebung sprechenden Umstände berücksichtigt und gegeneinander abgewogen, wie sich aus der E-Mail-Korrespondenz zwischen den Mitarbeitern des Antragsgegners ergibt.
bb) Es existieren auch keine Anhaltspunkte für einen Ermessensfehlgebrauch. Der Antragsgegner hat, wie insbesondere seine E-Mail vom 11.06.2021, aber auch seine Rügeantwort an die Antragstellerin vom 21.06.2021 zeigen, eine Unzumutbarkeit der Zuschlagserteilung für alle Beteiligten deswegen angenommen, weil die bis zum 14.06.2021 abzugebenden Angebote die bis zum Frühjahr 2022 stattfindende Entwicklung der Materialkosten nicht abbilden konnten. Er hat aus dem Umfang der Preiserhöhungen innerhalb kürzester Zeit sowie aus dem Umstand, dass Lieferanten von Baumaterialien derzeit keine langlaufenden Preisgarantien mehr abgeben, nachvollziehbar und vertretbar gefolgert, dass Bieter bei künftigen Ausschreibungen mit erheblichen Preisunterschieden und auch mit Risikozuschlägen auf die ursprünglich kalkulierten Materialpreise anbieten würden, so dass sich eine größere Preisspreizung ergeben könnte und deswegen ein erneuter Aufruf zum Wettbewerb für alle Betroffenen, insbesondere aber für ihn zur Minimierung der finanziellen Risiken führte. Schließlich hat er berücksichtigt, dass die erhebliche Verschiebung der Bauzeit unter den besonderen Bedingungen der Auswirkungen der Corona-Pandemie zu einer Veränderung des Teilnehmerfeldes einer Ausschreibung und damit u.U. auch zu einer Intensivierung des Wettbewerbs führen könnten. Er hat damit ausgewogen nicht nur eigene Belange, sondern auch objektive Interessen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer berücksichtigt und durch den gewählten Zeitpunkt der Aufhebung den Geheimwettbewerb im Rahmen der erneuten Ausschreibung im Offenen Verfahren gewahrt.
4. War die Aufhebung der Ausschreibung am 14.06.2021 rechtmäßig, wie vorausgeführt, so sind sämtliche Anträge der sofortigen Beschwerde unbegründet. Es kommt weder eine Anordnung der Fortsetzung des ursprünglichen Vergabeverfahrens - sei es durch Zuschlagserteilung (Antrag zu 2.) oder durch erneute Entscheidung über die Aufhebung (Hilfsantrag zu 4.) - noch eine Feststellung der Verletzung der subjektiven Rechte der Antragstellerin im Vergabeverfahren in Betracht.
V. Hilfsweise ist darauf zu verweisen, dass der auf den Primärrechtsschutz gerichtete Nachprüfungsantrag auch unbegründet gewesen wäre, wenn die Aufhebung - anders als der Senat meint - rechtswidrig gewesen wäre.
1. Es entspricht höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass ein öffentlicher Auftraggeber selbst dann, wenn kein Aufhebungsgrund nach § 17 EU Abs. 1 VOB/A besteht, nicht schlechthin gezwungen ist, einen der Ausschreibung entsprechenden Auftrag zu erteilen (vgl. BGH, Urteil v. 08.09.1998, X ZR 99/96, a.a.O; BGH, Urteil v. 05.11.2002, X ZR 232/00 "Ziegelverblendung", VergabeR 2003, 163,). Ein Bieter muss die Aufhebung einer Ausschreibung grundsätzlich nicht nur dann hinnehmen, wenn sie von einem der in den einschlägigen Bestimmungen für das Vergabeverfahren aufgeführten Gründe gedeckt und deshalb rechtmäßig ist, sondern auch dann, wenn die Aufhebung zumindest sachlich gerechtfertigt und ohne Verletzung der vergaberechtlichen Verfahrensgrundsätze getroffen worden und deswegen wirksam ist (vgl. OLG Naumburg, Beschluss v. 16.09.2002, 1 Verg 2/02, 1 Verg 2/02, ZfBR 2003, 182; OLG Naumburg, Beschluss v. 23.12.2014, 2 Verg 5/14 "Arzneimittelversorgung", VergabeR 2015, 458).
2. Diese Anforderungen sind hier erfüllt. Die Aufhebungsentscheidung des Antragsgegners beruht, wie die Vorausführungen zeigen, auf sachgerechten und willkürfreien Erwägungen. Zudem hat der Antragsgegner die Aufhebungsentscheidung in Unkenntnis der Angebotsinhalte getroffen, so dass es ausgeschlossen ist, dass mit dieser Entscheidung eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bzw. des Diskriminierungsverbots einherging.
VI. 1. Die Entscheidung über die Kostentragung im Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 175 Abs. 2, 78 GWB. Sie umfasst sowohl die Kosten des Antragsverfahrens nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB als auch die Kosten des Hauptsacheverfahrens.
2. Die Festsetzung des Gegenstandswertes des gerichtlichen Beschwerdeverfahrens beruht auf § 50 Abs. 2 GKG. Der Senat legt dabei die geprüfte Angebotssumme des Hauptangebotes der Antragstellerin zugrunde.
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Anhörungsrüge dient nicht zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit!
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OVG Saarland
Beschluss
vom 02.05.2022
2 B 69/22
1. Die Annahme einer Verletzung der Pflicht des Gerichts zur Kenntnisnahme des Beteiligtenvorbringens ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn in der angefochtenen Entscheidung auf einen bestimmten Sachvortrag der Beteiligten nicht eingegangen worden ist. Das Gericht ist weder nach Art. 103 Abs. 1 GG noch nach einfachem Verfahrensrecht (§§ 108 Abs. 1 Satz 2, 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) verpflichtet, sich in den Entscheidungsgründen mit jeder Einzelheit des Vorbringens zu befassen. Es genügt vielmehr die Angabe der Gründe, die für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesen sind.*)
2. Die Anhörungsrüge stellt keinen Rechtsbehelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung dar und dient auch nicht dazu, das Gericht zur Erläuterung oder Ergänzung derselben zu veranlassen.*)
3. Auf das Vorbringen, das Gericht habe einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung für tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen, kann eine Anhörungsrüge nicht gestützt werden, da es sich hierbei um Fragen der tatrichterlichen Würdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und damit der materiellen Richtigkeit der Entscheidung handelt.*)
Tenor
Die Anhörungsrüge des Antragstellers gegen den Beschluss des Senats vom 8.4.2022 - 2 B 49/22 - wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
Die gemäß § 152a Abs. 1 Satz 1 VwGO statthafte Anhörungsrüge des Antragstellers hat keinen Erfolg. Der Antragsteller hat nicht im Sinne von § 152a Abs. 2 Satz 6 VwGO dargelegt, dass die Voraussetzungen des § 152 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO vorliegen, d.h. der Senat in dem angegriffenen Beschluss vom 8.4.2022 den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet grundsätzlich das Recht, sich in dem Verfahren sowohl zur Rechtslage als auch zum zugrunde liegenden Sachverhalt äußern zu können (vgl. Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO).1 Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht jedoch nicht, dem Tatsachenvortrag oder der Rechtsansicht eines Verfahrensbeteiligten inhaltlich zu folgen.2 Das Gericht ist ebenso wenig verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Die Annahme einer Verletzung der Pflicht des Gerichts zur Kenntnisnahme des Beteiligtenvorbringens ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn in der angefochtenen Entscheidung auf einen bestimmten Sachvortrag der Beteiligten nicht eingegangen worden ist. Denn das Gericht ist weder nach Art. 103 Abs. 1 GG noch nach einfachem Verfahrensrecht (§§ 108 Abs. 1 Satz 2, 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) verpflichtet, sich in den Entscheidungsgründen mit jeder Einzelheit des Vorbringens zu befassen. Es genügt vielmehr die Angabe der Gründe, "die für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesen sind."3 Die Anhörungsrüge stellt zudem keinen Rechtsbehelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung dar und dient auch nicht dazu, das Gericht zur Erläuterung oder Ergänzung derselben zu veranlassen.
Der Senat hat in dem angefochtenen Beschluss vom 8.4.2022 das entscheidungsrelevante Vorbringen des Antragstellers in diesem Verfahren zur Kenntnis genommen und sich damit nach den zuvor genannten Maßstäben hinreichend auseinandergesetzt, dieses allerdings im Ergebnis für unbegründet erachtet. Die Auffassung des Antragstellers, der Senat habe sein Vorbringen hinsichtlich der Nachbarin P..., die von dem Vorfall nichts mitbekommen habe, und in Bezug auf die Hundehalterin nicht zur Kenntnis genommen und nicht bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt, trifft nicht zu. Auf Seite 5 des Senatsbeschlusses ist insoweit ausgeführt, aus den inhaltlich übereinstimmenden, in sich schlüssigen und daher glaubhaften Angaben von Frau F... und der Nachbarin, Frau P..., ergebe sich, dass der Hund des Antragstellers die Hunde der Eheleute F... ohne erkennbaren Anlass angegriffen und schwer verletzt hat. Soweit der Antragsteller nunmehr ausführt, Frau P... könne auch deshalb nichts mitbekommen haben, weil die Bewohner des Anwesens Nr. 13 ihren Transporter regelmäßig unterhalb des Anwesens P... abstellten, weswegen dieser der Blick auf das Anwesen der Hundehalter verwehrt sei, handelt es sich um neues Vorbringen, das nicht geeignet ist, eine Anhörungsrüge zu begründen.
Auch im Folgenden zeigt der Antragsteller keine Verletzung des rechtlichen Gehörs auf, sondern wiederholt im Wesentlichen seinen Vortrag aus dem Beschwerdeverfahren. Die Anhörungsrüge stellt aber wie bereits erwähnt keinen Rechtsbehelf zur (erneuten) Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung dar. Selbst wenn der Senat - hier lediglich unterstellt - einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung für tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen haben könnte, vermag dies einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs nicht zu begründen4, da es sich hierbei um Fragen der tatrichterlichen Würdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und damit der materiellen Richtigkeit der Entscheidung handelt. Darauf kann eine Anhörungsrüge nicht gestützt werden.
Soweit der Antragsteller abschließend darauf verweist, dass sein Sachvortrag "keinerlei Eingang in die Entscheidungsfindung" gefunden habe, "andernfalls von einem Gleichzeitig der wechselnden Sachvorträge auszugehen ist mit der Folge, dass dem Antrag stattzugeben ist", ist der Senat auf diese - irrige - Rechtsansicht bereits auf der Seite 7 seines Beschlusses vom 8.4.2022 eingegangen und hat auf die von den Verwaltungsgerichten auch in Eilverfahren vorzunehmende Sachverhaltswürdigung verwiesen. Ergänzend hierzu ist darauf hinzuweisen, dass im Eilrechtschutzverfahren anders als in verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren kein Raum ist für eine Klärung der durch den Fall aufgeworfenen Tatsachenfragen im Wege einer Beweisaufnahme ist.
Dass der Senat den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat, ist daher insgesamt nicht festzustellen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es wegen der gesetzlich bestimmten Festgebühr für das Anhörungsrügeverfahren (Nr. 5400 des Kostenverzeichnisses der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) nicht.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO).
Fußnoten
1) Ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. Beschlüsse vom 14.6.1960 - 2 BVR 96/60 -,
BVerfGE11, 218; und vom 30.10.1990 - 2 BR 562/88
2) BVerwG vgl. Beschlüsse vom 24.11.2011 - 8 C 13/11 - und vom 11.2.2008 - 5 B 17/08
3) Vgl. BVerfG, Beschluss v. 17.11.1992 - 1 BR 168/89 u.a.
4) BVerwG, Beschluss vom 22.1.1997 - 6 B 55/96
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LG Halle
Beschluss
vom 14.04.2022
4 O 249/20
1. Ob ein Unternehmen ein öffentlicher Auftraggeber ist, richtet sich nach der tatsächlichen Tätigkeit zum aktuellen Zeitpunkt, nicht nach dem ursprünglichen Gründungszweck.
2. Die Abgrenzung zwischen einer nichtgewerblichen und einer gewerblichen Wahrnehmung von Allgemeininteressen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls wird danach getroffen, ob das Unternehmen auch insoweit mit Gewinnerzielungsabsicht handelt und die mit der Tätigkeit verbundenen wirtschaftlichen Risiken selbst trägt.
3. Diese Auslegung gilt gleichermaßen für Vergaben oberhalb und unterhalb der Schwellenwerte.
Tenor
1) Der Beschluss der 3. Vergabekammer des L. vom 29.11.2017 im Verfahren 3 VK LSA 89/17, mit dem der Klägerin aufgegeben wurde die vollständigen Vergabeakten zum Verfahren zu reichen, wird aufgehoben.
2) Der Beschluss der 3. Vergabekammer des L. vom 8.12.2017 im Verfahren 3 VK LSA 89/17, mit dem der Klägerin ein Ordnungsgeld angedroht wurde, wird aufgehoben.
3) Der Beschluss der 3. Vergabekammer des L. vom 18.12.2017 im Verfahren 3 VK LSA 89/17, mit dem gegen die Klägerin ein Ordnungsgeld verhängt wurde, wird aufgehoben.
4) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 5.000 Euro zu zahlen.
5) Es wird festgestellt, dass die Vergabekammer des L. keinen Anspruch gegen die Klägerin auf die Übergabe von Akten im Zusammenhang mit dem Vergabeverfahren 3 VK LSA 89/17 hat.
6) Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
7) Von den Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin 60 % und die Beklagte 40 %.
8) Das Urteil ist jeweils gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Parteien streiten darum, ob Ansprüche der Vergabekammer gegen die Klägerin bestehen.
Die Klägerin ist ein privatrechtlich organisiertes Wohnungsunternehmen in D. Alleingesellschafterin ist die Stadt D. Nach dem Gesellschaftsvertrag ist der Gesellschaftsgegenstand die Bewirtschaftung, Verwaltung und Errichtung von Wohn- und Geschäftsgebäuden zur Versorgung der Einwohner der Stadt D. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Gesellschaftsvertrag verwiesen (Anlage K 1 - Bd. I, Bl. 88 f. d.A.). Sie steht hinsichtlich der Vermietung der Wohn- und Gewerbeflächen mit den anderen Vermietern in D. im Wettbewerb. Dazu gehören drei große Wohnungsgenossenschaften und auch große Wohnungsunternehmen. Es liegt in D. eine sehr hohe Leerstandsquote von 27 % vor, die Einwohnerzahl ist seit vielen Jahren deutlich gesunken und wird auch in Zukunft weiter deutlich sinken. An dem fortbestehenden Überangebot an Wohnungen hat auch der bereits durchgeführte Abriss von rd. 3.500 Wohneinheiten durch die Klägerin nichts geändert. Die Stadt D. hält eigene Einrichtungen für bedürftige Menschen vor.
Die Klägerin trägt nach den Regelungen des Gesellschaftsvertrags das wirtschaftliche Risiko allein und die Stadt als Alleingesellschafterin gleicht weder Verluste aus noch übernimmt sie das Insolvenzrisiko der Klägerin. Sie finanziert sich ausschließlich aus den erzielten Mieteinnahmen und erreicht eine marktübliche Kapitalrendite. Seit dem Jahr 2007 wurden durchgehend Gewinne erwirtschaftet, wobei allerdings wegen sehr hoher Abschreibungen von 11,4 und 5,5, Millionen Euro auf das Anlagevermögen in den Jahren 2011 und 2012 bilanziell Verluste ausgewiesen werden mussten. Für die Geschäftsführung besteht ein erfolgsabhängiger Vergütungsanteil.
Die Klägerin schrieb Abrissarbeiten im Wert von rd. 280.000 Euro nach den Regelungen der VOB/A aus. Ein unterlegener Bieter hat auf die Mitteilung, dass sein Angebot nicht angenommen werde, die bei dem L. eingerichtete 3. Vergabekammer angerufen. Diese verlangte die Übersendung der Vergabeakte der Klägerin, was letztere verweigerte. Mit Beschluss vom 29. November 2017 setzte die 3.Vergabekammer der Klägerin eine Frist zur Vorlage des Originals der Vergabeakte. Mit Beschluss vom 8.12.2017 drohte sie ein Zwangsgeld von 5.000 Euro an und verhängte dieses mit Beschluss vom 18.12.2017. Die Klägerin zahlte das Zwangsgeld unter Vorbehalt.
Die Klägerin hat zunächst Klage vor dem Verwaltungsgericht H. gegen das Landesverwaltungsamt mit dem Antrag erhoben, die Beschlüsse des Landesverwaltungsamtes aufzuheben und das gezahlte Zwangsgeld zurückzuzahlen. Das Verwaltungsgericht hat den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht D. verwiesen, wo es bei einer Beschwerdekammer einging. Dieses hat sich für örtlich und funktional unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht H. verwiesen. Die Klägerin nimmt nunmehr im Wege des Parteiwechsels das L. in Anspruch.
Die Klägerin beantragt nunmehr,
1) Der Beschluss des Landesverwaltungsamt vom 29. November 2017, mit dem die Klägerin zur Übergabe der vollständigen Vergabeakten im Original an die Vergabekammer zur Nachprüfung im Verfahren zum Az. 3 VK LSA 89/17 verpflichtet wird, wird aufgehoben,
hilfsweise,
der Beklagte wird verurteilt, das Landesverwaltungsamt anzuweisen, festzustellen, dass der Beschluss des Landesverwaltungsamts vom 29. November 2017, mit dem die Klägerin zur Übergabe der vollständigen Vergabeakten im Original an die Vergabekammer zur Nachprüfung im Verfahren zum Az. 3 VK LSA 89/17 verpflichtet wird, nichtig ist,
äußerst hilfsweise
der Beklagte wird verurteilt, das Landesverwaltungsamt anzuweisen, den Beschluss des Landesverwaltungsamts vom 29. November 2017, mit dem die Klägerin zur Übergabe der vollständigen Vergabeakten im Original an die Vergabekammer zur Nachprüfung im Verfahren zum Az. 3 VK LSA 89/17 verpflichtet wird, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
2) Den Beschluss des Landesverwaltungsamt vom 8. Dezember 2017, mit dem der Klägerin die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 5.000,00 Euro angedroht wird, falls sie nicht bis 14. Dezember 2017 die vollständigen Vergabeakten im Original an die Vergabekammer zur Nachprüfung des strittigen Vergabeverfahrens übergibt, wird aufgehoben,
hilfsweise
der Beklagte wird verurteilt, das Landesverwaltungsamt anzuweisen, festzustellen, dass der Beschluss des Landesverwaltungsamts vom 8. Dezember 2017, mit dem der Klägerin die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 5.000,00 Euro angedroht wird, falls sie nicht bis 14. Dezember 2017 die vollständigen Vergabeakten im Original an die Vergabekammer zur Nachprüfung des strittigen Vergabeverfahrens übergibt, nichtig ist,
äußerst hilfsweise
der Beklagte wird verurteilt, das Landesverwaltungsamt anzuweisen, den Beschluss des Landesverwaltungsamts vom 8. Dezember 2017, mit dem der Klägerin die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 5.000,00 Euro angedroht wird, falls sie nicht bis 14. Dezember 2017 die vollständigen Vergabeakten im Original an die Vergabekammer zur Nachprüfung des strittigen Vergabeverfahrens übergibt, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
3) Den Beschluss des Landesverwaltungsamt vom 18. Dezember 2017, mit dem gegen die Klägerin ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000,00 Euro festgesetzt wurde, wird aufgehoben,
hilfsweise
der Beklagte wird verurteilt, das Landesverwaltungsamt anzuweisen, festzustellen, dass der Beschluss des Landesverwaltungsamts vom 18. Dezember 2017, mit dem gegen die Klägerin ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000,00 Euro festgesetzt wurde, nichtig ist,
äußerst hilfsweise
der Beklagte wird verurteilt, das Landesverwaltungsamt anzuweisen, den Beschluss des Landesverwaltungsamts vom 18. Dezember 2017, mit dem gegen die Klägerin ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000,00 Euro festgesetzt wurde, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
4) Der Beklagte wird verurteilt, das von der Klägerin gezahlte Zwangsgeld in Höhe von 5.000,00 Euro an die Klägerin auf deren Konto bei der Deutschen Bank, IBAN DE... spätestens drei Tage nach Rechtskraft des Urteils zurückzuzahlen.
5) Es wird festgestellt, dass der Beklagte keine Ansprüche gegen die Klägerin auf Übergabe von Akten der Klägerin hat, insbesondere nicht auf Übergabe der vollständigen Vergabeakten im Original zur Nachprüfung im Verfahren des Beklagten zum Az. 3 VK LSA 89/17.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte bestreitet, dass die Klägerin ausschließlich nach wirtschaftlichen sowie leistungs- und effizienzbezogenen Kriterien und mit Gewinnerzielungsabsicht handelt. Ihre Aufgabe sei - insoweit wird auf die Selbstdarstellungen der Klägerin (Anlage B 1, 2 - Bd. II, Bl.61ff. d.A.) verwiesen - die Bereitstellung von Wohnraum für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen und die soziale Betreuung von Bürgern. Die Gewinnerzielung diene nur der Erreichung der sozialen Aufgabenstellung. Auch der Rückbau des Wohnungsbestandes diene dem öffentlichen Interesse des Städtebaus. In einem Insolvenzfall würde die Stadt die Klägerin mit Finanzmitteln retten.
Entscheidungsgründe
1) Die Klage ist weitgehend zulässig.
a) Insbesondere ist die Zivilkammer des Landgerichts H. aufgrund der bindenden Rechtswegverweisung (§ 17 a Abs.2 GVG) und der Verweisung durch das Landgericht D. zuständig.
aa) Allerdings war die Verweisung rechtlich unzutreffend. Das Verwaltungsgericht hat übersehen, dass sich nicht jede Tätigkeit der Vergabekammer im Zusammenhang mit einem unterschwelligen Vergabeverfahren als ein Zivilverfahren darstellt. Auch im Urteil des Oberverwaltungsgericht N. (1 O 149/18), auf das sich das Verwaltungsgericht stützt, wird dies nicht ausreichend klar unterschieden. Ebenso zeigt der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 2.5.2007 ( Az. 6 B 10/07) auf, dass dieser Aspekt völlig übersehen wird; dort wird allein das Rechtsverhältnis zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Bieter betrachtet.
Zwar ist zutreffend, dass sich im Vergabeverfahren selbst nur der Auftraggeber und der übergangene Bieter streiten und deshalb handelt es sich insoweit richtigerweise um zivilrechtliche Verfahrensgegenstände. Dies gilt aber nicht für Maßnahmen der Vergabestelle in Vorbereitung dieses Verfahrens. Denn dort handelt die Vergabestelle klar in einem Über/Unterordnungsverhältnis aus eigener öffentlich-rechtlicher Machtbefugnis, wie sich auch daraus ergibt, dass sie Zwangsmaßnahmen auf öffentlich-rechtlicher Grundlage anwendet und dies ausdrücklich wegen eines erlassenen Verwaltungsaktes zur Vorlage der Vergabeakte der Klägerin. Auch die Beanstandung des § 19 Abs.2 Landesvergabegesetzes des Landes Sachsen-Anhalt (LVG-LSA) bei einem Verfahrensabschluss stellt offensichtlich einen Verwaltungsakt dar. Dem steht auch nicht entgegen, dass nach herrschender Meinung das unterschwellige Vergabeverfahren von der Ausschreibung bis zum Zuschlag dem Zivilrecht zugeordnet wird (Schneider, Handbuch EDV-Recht, 5.A., Rn.409 m.w.N.). Denn diese rechtliche Zuweisung kann allein für den Streit mit dem Bieter gelten. Nicht aber für das Verfahren an sich, soweit durch den Landesgesetzgeber im Rahmen seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art.74 GG - die bundesgesetzlichen Regelungen betreffen nur Verträge oberhalb der Schwellenwerte - für die unterschwelligen Vergabeverfahren ein eigenständiges Nachprüfungsverfahren geschaffen wurde. Diese Verfahrensgestaltung wurde in S. öffentlich-rechtlich ausgestaltet. Auch die Unterschwellenvergabeordnung des Bundes enthält keinerlei Regelungen zu einer abweichenden rechtlichen Bewertung des Nachprüfungsverfahren.
bb) Eine Zuständigkeit des Oberlandesgerichts gemäß § 171 Abs.3 GWB besteht nicht. Die Regelungen des GWB gelten nur für Vergabeverfahren oberhalb der Schwelle des § 106 GWB, wie diese Bestimmung ausdrücklich darstellt. Eine Anwendung dieser Bestimmungen im Unterschwellenbereich ist durch das Land S. auch nicht gesetzlich angeordnet.
b) Der Parteiwechsel und die Umstellung der Klageanträge ist sachdienlich.
2) Die Klage ist auch weitgehend begründet.
a) Zwar kann das Land im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung aus Art. 74 GG ohne weiteres auch für den bundesrechtlich gerade nicht geregelten Unterschwellenbereich eine Vergabeprüfung einführen und insoweit die bereits bestehenden Vergabekammern nach dem GWB zusätzlich auch diese Aufgabe zuweisen (§ 19 Abs.3 LVG-LSA i.V.m. Zif. II 1 des Runderlasses vom 4.3.1999 - offensichtlich fehlerhaft bezeichnet als § 2 Abs.1), wobei die nach Zif. III Nr.5 des Runderlasses erlassene Geschäftsordnung eine weitere Vergabekammer und die Verteilung der Verfahren vorsehen kann.
Und die Vergabekammer kann gemäß § 19 Abs.2 S.1 des LVG-LSA verlangen, dass ihr der potentiellen Auftraggeber die Akten zum Vergabeverfahren vorlegt. Die Durchführung eines Vergabeprüfungsverfahrens im Bereich unterhalb der Wertschwellen des § 106 GWB i.V.m. Art 4 der Richtlinie 2014/24 EU setzt gemäß § 1 Abs.1 sowie § 2 Abs.2 LVG-LSA jedoch voraus, dass es sich bei dem Betroffenen um einen öffentlichen Auftraggeber im Sinne des § 99 GWB handelt. Der Verweis in § 2 Abs.2 LVG-LSA zum persönlichen Anwendungsbereich auf § 98 Nr.2 ist bei der erforderlichen Auslegung als dynamische Verweisung auf den nunmehrigen § 99 GWB zu verstehen.
b) Bei der Klägerin handelt es sich jedoch nicht um einen öffentlichen Auftraggeber im Sinne des § 99 GWB. Dies obwohl mehr als die Hälfte des Aufsichtsorgans der Klägerin durch die Kommune besetzt werden und es bei der Gründung einer vorhergehenden Rechtsorganisation in D. (nicht der Klägerin !) ausweislich der Eigendarstellung der Klägerin in dem Druckwerk "90 Jahre Soziale Wohnungswirtschaft in D." (Gründung als gemeinnützige Siedlungsgesellschaft, Förderung soziale Wohnungswirtschaft - Anlage B 1 - Bd.III, Bl.24ff. d.A.) um die Wahrnahme von Allgemeininteressen nichtgewerblicher Art ging, worauf der Wortlaut des § 99 GWB allein abstellt. Die Bestimmung des § 99 GWB hat jedoch im Laufe der Zeit durch die Rechtsprechung eine konkretere Auslegung erhalten, die sich vom ursprünglichen Gründungszweck gelöst hat und darauf abstellt, wie die Tätigkeit derzeit ausgeübt wird und die Abgrenzung zwischen einer nichtgewerblichen und einer gewerblichen Wahrnahme von Allgemeininteressen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls danach getroffen, ob das Unternehmen auch insoweit mit Gewinnerzielungsabsicht handelt und die mit der Tätigkeit verbundenen wirtschaftlichen Risiken selbst trägt (grundlegend EuGH, Urteil vom 22.5.2003, Az. C-18/01 Rn.51, das insoweit sogar eine teleologische Reduktion anspricht; EuGH, Urteil vom 27.2.2033, Az. C-373/00 Rn.66; EuGH, Urteil vom 16.10.203, Az. C- 283/00; Rn.81 f.; OLG Hamburgs, Beschluss vom 25.1.2007, Az. 1 Verg 5/06 Rn.22 m.w.N.; OLG Hamburg, Beschluss vom 11.2.2019, Az. 1 Verg 3/15, Rn. 159 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17.4.2008, Az. 8 U 228/06 , Rn.68ff.).
c) Zwar betrifft diese Auslegung den Bereich oberhalb der Schwellenwerte. Die Regelung des § 99 GWB ist jedoch in gleicher Weise auszulegen wie für die Vergaben unterhalb der Schwellenwerte. Ersichtlich beabsichtigte das Land S. bei unterschwelligen Vergaben nicht auch eine Erweiterung des hinsichtlich der zu prüfenden Vergaben betroffenen Personenkreises. In § 1 Abs.1 und § 2 Abs.2 LVG- LSA wird allein an die Regelung des Bundesgesetzes (§ 99 GWB) angeknüpft. Und auch § 19 Abs.1 GWB verweist nur auf den "öffentlichen Auftraggeber", der in § 99 GWB gesetzlich definiert ist.
d) Es kann dahinstehen, ob die Tätigkeit der Klägerin auch Bereiche umfasst, die Allgemeininteressen umfassen. Denn auch in diesem Bereich handelt die Klägerin gewerblich. Davon ist für dieses Urteil jedenfalls auszugehen. Ausweislich des Gesellschaftsvertrages der Klägerin trägt sie ihre Verluste selbst, das Insolvenzrisiko wird ihr durch die Stadt nicht abgenommen und es gibt auch keine Gewährleistungshaftung der Stadt.
Soweit die Beklagte demgegenüber behauptet hat, dass die Stadt die Klägerin vor einer Insolvenz mit weiteren Mitteln ausstatten würde, so ist sie auf das Bestreiten der Klägerin beweisfällig geblieben. Dies geht zu ihren Lasten, da sie im Zivilprozess die Tatsachen vortragen und beweisen muss, auf die sie ihr Verteidigungsvorbringen stützen will und die Tatsachen beweisen muss, auf die sie ihr Recht zu einer Tätigkeit der Vergabekammer gegenüber der Klägerin stützen will. Angesichts eines Anlagevermögen von rd. 200 Millionen Euro, was sich aus den durch die Beklagte eingereichten Jahresabschlüssen ergibt, liegt es auch eher fern, dass es zu einer Insolvenz kommt.
Es ist für die Entscheidung auch unerheblich, ob die Gesetzeslage grundsätzlich einer Gemeinde in S. das gewinnorientierte Betreiben eines privatrechtlich gestalteten Unternehmens gestattet (§ 128 f. KVG-LSA). Denn es kommt für die Bewertung der Tätigkeit der Klägerin als gewerblich oder nichtgewerblich allein auf die tatsächlich ausgeübte Art und Weise der Betätigung an. Unstreitig ist insoweit, dass die Klägerin seit 2007 jährlich Gewinne erwirtschaftet hat. Nur in zwei Jahren, in denen aus der Betriebstätigkeit im Übrigen auch Gewinne erzielt wurden, musste wegen massiver Abschreibungen auf die Immobilienwerte bilanziell ein Verlust ausgewiesen werden.
Weder die Beschäftigung von Ansprechpartnern für die Mieter, noch die Vermietung von Wohnungen an Ausländer und entlassene Strafgefangene deutet auf eine nichtgewerbliche Tätigkeit der Klägerin hin. Auch wenn letztere auf dem allgemeinen Mietmarkt oft schlechtere Chancen haben eine Wohnung zu erlangen, so ist nicht ersichtlich, dass ihnen von der Klägerin die Wohnungen zu anderen Bedingungen zur Verfügung gestellt werden als sonstigen Mietern (was sogar dem AGG widersprechen würde). Angesichts der hohen Leerstandsquote erscheint es sogar wirtschaftlich sehr sinnvoll, wenn die Klägerin insoweit besondere Bemühungen entwickelt, um solche Mieter anzuziehen, die bei anderen Vermietern nicht so beliebt sein mögen. Dies insbesondere, da bei diesen (gegenüber dem allgemeinen Mietmarkt) vermehrt die Mietzahlung durch staatliche Transfer- oder Sozialleistungen mit unmittelbarer Zahlung an den Vermieter gesichert ist, so dass diesbezüglich Zahlungsausfälle nicht zu erwarten sind, was auf den allgemeinen Mietmarkt nicht zutrifft.
Mit den Ansprechpartnern für die Mieter wird die Mieterzufriedenheit gestärkt und entstehende Probleme ausgeräumt, bevor es dazu kommt, dass das Mietverhältnis beendet wird oder werden muss. Insoweit handelt es sich mitnichten um eine quasi vorgelagerte Sozialarbeit für die städtischen Behörden, sondern insbesondere angesichts der hohen Leerstandsquote um Maßnahmen zum Mietererhalt, die wirtschaftlichen Erfordernissen entsprechen.
Selbst mit dem Rückbau überflüssiger Wohnungen handelt die Klägerin im eigenen Interesse und nicht im Interesse der Allgemeinheit. Denn angesichts des starken Einwohnerrückgangs belasten die dauerhaft leerstehenden Immobilien durch anfallende, laufende Kosten das Vermögen der Klägerin dauerhaft negativ. Deren weiterer Vorhalt ist unwirtschaftlich und es ist angesichts der Einwohnerprognose ersichtlich, dass sich daran nichts ändern wird. Dass sich die Klägerin bei dem Rückbau an irgendwelchen Wünschen der Stadt orientiert und nicht daran, in welchen Immobilienlagen sich erwartbar die beste Vermietung erzielen lässt, ist nicht ersichtlich.
Soweit in der Rechtsprechung bei kommunalen Wohnungsunternehmen öfter allein wegen einer Aufgabe der sozialen Wohnraumversorgung von einer insoweit nichtgewerblichen Tätigkeit ausgegangen wird, missachtet dies den zweiten Prüfungsschritt für das Vorliegen eines öffentlichen Auftraggebers, nach dem konkret nach allen Umständen des Einzelfalls zu prüfen ist, ob die Aufgabe tatsächlich in einer nicht gewerblichen Art und Weise ausgeführt wird (vgl. OLG Hamburgs, Beschluss vom 11.2.2019, Az. 1 Verg 3/15, Rn. 159 f.). Insoweit wird oft nur pauschal darauf verwiesen, dass insoweit eine Kombination mit der gewerblichen Tätigkeit bestehe ohne konkret darzustellen, warum die soziale Wohnraumversorgung in einer nichtgewerblichen Art ausgeführt wird. Gerade bei fortgesetzt bestehenden großen Leerständen - wie vorliegend in D. - ist darauf zu verweisen, dass es dort gar keiner sozialen Wohnraumbeschaffung bedarf, da sich grundsätzlich jeder größere Vermieter über jeden Mieter freuen dürfte. Es ist auch darauf zu verweisen, dass nach dem Gesellschaftsvertrag bei der Klägerin eine Sozialkomponente für den Gesellschaftszweck nicht einmal aufgeführt ist (§ 1 Gesellschaftsvertrag). Die wirtschaftliche Ausrichtung der Klägerin wird auch durch § 1 Abs.2 der Geschäftsordnung deutlich, nach der das Geschäftsziel die nachhaltige Steigerung des Unternehmenswertes ist. Unstreitig erzielt die Klägerin auch die marktübliche Kapitalrendite unter den Marktbedingungen wie in D. mit seinen erheblichen Leerstandsquoten. Angesichts des sehr schwierigen wirtschaftlichen Umfeldes und der knappen Jahresgewinne der Klägerin ist auch nicht zu erwarten, dass die Stadt in irgendeiner Weise darauf einwirken wird, dass bei dieser andere als die wirtschaftlichsten Verträge abgeschlossen werden.
Die Beklagte kann auch nicht darauf verweisen, dass nach der einschlägigen Rechtsprechung bereits dann das Unternehmen insgesamt als öffentlicher Auftraggeber anzusehen ist, wenn auch nur zu einem geringen Teil Aufgaben im Allgemeininteresse in einer nichtgewerblichen Art wahrgenommen werden (Infizierungstheorie). Denn es ist - wie vorstehende dargestellt - nicht ersichtlich, dass die Klägerin auch nur in einem Teilbereich nichtgewerblich handelt.
Auch der Verweis darauf, dass zahlreiche Urteile und Vergabekammerentscheidungen kommunale Wohnungsunternehmen als öffentliche Auftraggeber erachten, missachtet das Erfordernis der Einzelfallbetrachtung nach der Art und Weise der ausgeübten Tätigkeit. Anders als in zahlreichen anderen Sachverhaltsgestaltungen, auf die oft abgestellt wird, liegt - anders als im Verfahren Korhonen des EuGH (Az. C-18/01) - keine Erklärung dazu vor, dass der öffentliche Gesellschafter das Unternehmen vor der Insolvenz schützen werde. Ebenso wenig liegt ein Sachverhalt vor, in dem die Kommune insoweit bereits tätig geworden ist bzw. seit 10 Jahren durch Beihilfen zu einer Unternehmenssanierung beiträgt oder bereits Zuschüsse gewährt hat.
3) Gemäß den vorstehenden Ausführungen ist die Anforderung der Ausschreibungsunterlagen materiell rechtswidrig, weil die Klägerin nicht dem Personenkreis unterfällt, auf die das Landesvergabegesetz L. anwendbar ist. Damit fehlt auch der Zwangsgeldandrohung und Zwangsgeldfestsetzung die rechtliche Grundlage.
Insoweit kann ausnahmsweise auch im Zivilverfahren die Aufhebung der entsprechenden Verwaltungsakte ausgesprochen werden. Denn die Verweisung durch das Verwaltungsgericht erfolgte rechtsirrig. Insoweit wird auf die Darstellung zu Ziffer 1) dieses Urteils verwiesen. Und in solchen Fällen ist anerkannt, dass bei dadurch auftretenden Regelungslücken im grundsätzlich berufenen Prozessrecht des aufnehmenden Gerichts auch dasjenige Prozessrecht, nach welchem der Rechtsstreit ohne die unzutreffende Verweisung zu beurteilen war, analog anzuwenden ist, wenn dies dem Rechtsschutzziel des von der unberechtigten Verweisung betroffenen Klägers am ehesten entspricht (BGH, Beschluss vom 14.12.1989, Az. IX ZB 40, 89, Rn. 8 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 6.6.1967, Az. IV C 216.65 Rn. 19; BVerwG, Urteil vom 24.4.1975, Az. VIII A1.73; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.4.2018, Az. L 7 SF 1/18).
Nach § 1 VwVfG LSA in Verbindung mit § 79 VwVG gelten für förmliche Rechtsbehelfe die Vorschriften der VwGO. Nach der Regelung des § 113 Abs. 1 VwGO führt ein rechtswidriger Verwaltungsakt zur Aufhebung des entsprechenden Bescheides. Das Zivilrecht kennt keine solche Rechtsfolge und ein Feststellungsurteil genügt dem Rechtsschutzziel nicht in gleicher Weise, da es die angefochtenen Bescheide bestehen lässt. Insbesondere würde ohne Aufhebung der Bescheide der Eintritt deren Bestandskraft drohen oder auf diese zukünftig in anderer Weise Bezug genommen werden.
Darauf, ob auch die Bestimmung des § 178 GWB analog anwendbar sein könnte, kommt es mithin nicht an. Zwar geht die Beklagte in der Klageerwiderung selbst von der unmittelbaren Anwendung der Vorschriften gemäß § 155ff. GWB aus, wobei dies allerdings grundsätzlich der ständigen Rechtsprechung widerspricht und gesetzlich nicht angeordnet ist. Vielmehr zeigt § 19 Abs. 2 LVG-LSA auf, dass für die zu treffende Entscheidung gegenüber § 168 GWB gerade Abweichendes geregelt ist.
4) Die Beklagte hat auch die auf die unberechtigt geltend gemachte Zwangsgeldforderung bereits erhaltenen 5.000 Euro zurückzuzahlen. Da das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien öffentlich-rechtlich ausgestaltet ist, folgt der Anspruch aus dem öffentlich-rechtlich Folgenbeseitigungsanspruch und nicht aus § 812 Abs.1 BGB. Die Verweisung an das Zivilgericht ändert nichts an den anzuwendenden materiellrechtlichen Regelungen zwischen den Parteien.
Allerdings kann die Klägerin einseitig keinen konkreten Leistungsweg - hier Überweisung auf ein bestimmtes Konto - verlangen. Die Art der Geldübermittlung bestimmt allein der Schuldner.
Soweit die Klägerin eine Rückzahlung spätestens drei Tage nach Rechtskraft verfolgt, ist dies nicht nachzuvollziehen, da die Rückzahlungspflicht bereits mit der Rechtskraft eintritt. Angesichts der Formulierung "spätestens" handelt es sich allerdings nicht um eine Beschränkung des Antrages, die einer frühere Ausurteilung als drei Tage nach der Rechtskraft gemäß § 308 Abs.1 ZPO entgegensteht. Es dürfte sich allein um eine mit dem Klageantrag verbundene Mahnung handeln.
5) Begründet ist auch der Feststellungsantrag zu Ziffer 5) soweit er das aktuelle Vergabeverfahren betrifft. Dem Anspruch fehlt nicht das erforderliche Rechtsschutzinteresse. Denn mit der Entscheidung in diesem Rechtsstreit werden nur die bisher ergangenen Verwaltungsakte der Beklagten beseitigt. Rechtlich könnte sie insoweit neue Verwaltungsakte wegen dieser Ausschreibung erlassen.
Der weitergehende Feststellungsantrag ist jedoch unbegründet. Gemäß vorstehenden Darstellungen kommt es für die Abgrenzung einer gewerblichen von einer nichtgewerblichen Tätigkeit jeweils auf die Art und Weise an, in welcher aktuell gehandelt wird. Insoweit kann sich die Bewertung der Tätigkeit der Klägerin schnell auch anders darstellen, was aufgrund der "Infizierungstheorie" auch nur bei geringen Änderungen gilt. Es kann daher keine generelle Feststellung für die Zukunft geben.
Der Antrag ist auch unbegründet, soweit er jegliche Aktenanforderungen des Landes S. bei der Klägerin in Zukunft betrifft. Der Antrag ist nicht auf Vergabeverfahren beschränkt.
6) Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92 Abs.1, 709 ZPO.
Auch Unterkriterien sind mit Gewichtung transparent bekannt zu ge...
Auch Unterkriterien sind mit Gewichtung transparent bekannt zu geben!
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OLG Frankfurt
Beschluss
vom 12.04.2022
11 Verg 11/21
Auch Unterkriterien und ihre Gewichtung sind aus Transparenzgründen bekanntzugeben. Eine Veröffentlichung der Bewertungsmethode ist dagegen, soforn die vom EuGH (Urteil vom 14.07.2016 - Rs. C-6/15 - Dimarso, VPRRS 2016, 0281) aufgezeigten Grenzen eingehalten werden, unabhängig vom Vorliegen einer funktionalen Ausschreibung nicht erforderlich.*)
vorhergehend:
VK Hessen, 18.11.2021 - 69d-VK-13/2021
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der 2. Vergabekammer des Landes Hessen vom 18.11.2021 (69d-VK-13/2021) teilweise aufgehoben und klarstellend wie folgt neu gefasst:
Auf den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin wird die Antragsgegnerin verpflichtet, das Vergabeverfahren bei fortbestehender Vergabeabsicht hinsichtlich Los 1 in den Stand vor Angebotswertung zurückzuversetzen.
Der weitergehende Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Antragstellerin 60% und der Antragsgegner 40% zu tragen. Die Beigeladenen zu 1) und 2) tragen ihre Kosten insoweit selbst.
Von Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Kosten der Beigeladenen zu 2) haben die Antragstellerin 60% und die Antragsgegnerin 40% zu tragen.
Die Hinzuziehung anwaltlicher Bevollmächtigung im Verfahren vor der Vergabekammer wird für die Beigeladene zu 2) für notwendig erklärt.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 296.000,00 festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsgegnerin schrieb mit Bekanntmachung vom XX.XX.2021 Unterhaltsreinigungsleistungen an der Hochschule Stadt1 in drei Losen im offenen Verfahren aus: Los 1 betreffend den Campus Stadt1, Gebäude
,
und
, Los 2 den Campus Stadt1, Gebäude
,
und
und Los 3 den B Stadt2, Gebäude ...
Die Antragstellerin ist Bestandsunternehmerin für den Leistungsbereich der jetzigen Lose 1 und 2.
Das wirtschaftlichste Angebot sollte gemäß Z. 10 der Vergabeunterlagen, Teil A, Rahmenbedingungen (IV/13) in Verbindung mit Teil C, Kriterienkatalog anhand des Preises (50 %) sowie der Leistungsbewertung gemäß dem Kriterienkatalog (ebenfalls 50 %) ermittelt werden. Die Bieter sollten dabei gem. den Vergabeunterlagen, dort Anlage 7, Fragen zur Reinigung für die drei Wirtschaftlichkeitskriterien L1 bis L 3 ausfüllen. Die Fragen betrafen zum einen die Reinigungstechnik, L 1, Anlage 7a, untergliedert in "Obenarbeiten" und "Untenarbeiten". Zum anderen bezogen sie sich auf die "Objektorganisation", L 2, Anlage 7b, untergliedert in "Einarbeitungsplan" und "Objektbetreuung" und schließlich auf "Qualitätssicherung", L 3, Anlage 7 c, untergliedert in "Qualitätscheck" und "Schulungen".
Für die Kriterien L1 bis L3 konnten die Bieter gemäß den Angaben unter Ziff. 10.3 Teil A: Rahmenbedingungen jeweils 300 Punkte erhalten; angegeben worden war auch die Verteilung dieser Punkte auf die bezeichneten Untergliederungspunkte. Die Punktevergabe richtete sich dabei gem. Ziff. 2-4 Teil C: Kriterienkatalog nach den dort im Einzelnen aufgeführten Wertungsstufen, die sich hinsichtlich L1 in vier Stufen auf das Risiko für die Hygiene/Qualität und für L2 und L3 in jeweils sieben Stufen auf die Sicherheit für die jeweils benannte Aufgabenerfüllung bezogen. Die für die Leistungskriterien vergebenen Punkte wurden von der Antragsgegnerin anhand der Angaben der Bieter in den Fragebögen ermittelt. Bei der Bewertung verwendete die Antragsgegnerin dafür ein Punkteschema gemäß den Wertungsunterlagen (Ordner VIII, Bl. 26 ff., 47ff, 74 ff.). Dieses war den Bietern nicht als Teil der Vergabeunterlagen zuvor bekannt gegeben worden.
Die Antragstellerin gab ein Angebot für alle drei Lose ab und erzielte einen Platz schlechter als 6. Sie erreichte bei allen drei Losen für das Leistungskriterium L1 insgesamt jeweils die volle Punktezahl, beim Leistungskriterium L2 für das Unterkriterium Objektbetreuung die volle Punktzahl, für die Einarbeitung dagegen nur 20 von maximal möglichen 100 Punkten; nach der Wertungsmatrix lagen insoweit "Angaben mit mangelhafter Sicherheit für eine reibungslose Einarbeitung" vor. Beim Leistungskriterium Qualitätssicherung L3 erzielte die Antragstellerin für das Unterkriterium Qualitätschecks 80 von maximal möglichen 200 Punkten; nach der Wertungsmatrix lagen "Angaben mit ausreichende Sicherheit" vor und für das Unterkriterium der Schulungen wiederum die volle Punktzahl.
Mit Schreiben vom 11.03.2021 teilte die Antragsgegnerin mit, dass sie den Zuschlag hinsichtlich Los 1 auf das Angebot der Beigeladenen zu 1) und den Zuschlag hinsichtlich der Lose 2 und 3 auf das Angebot der Beigeladenen zu 2) erteilen möchte.
Am selben Tag bat die Antragstellerin um nähere Informationen und Zusendung der Angebotswertung. Hierauf reagierte die Antragsgegnerin nicht. Am 18.03.2021 rügte die Antragstellerin die Wertung ihres Angebots. Auch hierauf reagierte die Antragsgegnerin nicht. Am 19.03.2029 stellte die Antragstellerin daraufhin den Nachprüfungsantrag.
Im Rahmen des Nachprüfungsantrags verwies die Antragstellerin darauf, dass die Antragsgegnerin trotz Aufforderung keine Angaben zur Wertung ihres Angebots gemacht habe. Sie, die Antragstellerin, habe mit den identischen Angaben im vorausgegangenen Vergabeverfahren jeweils die volle Punktzahl erzielen können. Zur Wahrung ihrer Rechte habe sie deshalb vorsorglich den Nachprüfungsantrag eingereicht.
Im Einzelnen rüge sie, dass die Vorabinformation unzureichend sei, da aus ihr nicht hervorgehe, aus welchen Gründen sie nicht den Zuschlag erhalte. Sie habe weder eine für die einzelnen Lose differenzierende Information erhalten noch seien die Kriterien genannt worden, in denen sie, die Antragstellerin, schlechter abgeschnitten habe als die Beizuladenden.
Die Angebotswertung sei zudem erkennbar fehlerhaft durchgeführt worden. Beim Kriterium "Reinigungstechnik" sei es schlicht ausgeschlossen, dass sie nicht die volle Punktzahl erreicht habe.
Bei dem Kriterium "Objektorganisation" habe sie Angaben für die größtmögliche Sicherheit gemacht. Im Übrigen sei eine Einarbeitung des Personals infolge ihrer Tätigkeit im Objekt seit 2018 entbehrlich. Im Bereich der Vorarbeiterstunden habe sie die bei der ersten Ausschreibung angesetzten Stunden übernommen, die damit die größtmögliche Sicherheit für eine reibungslose Objektbetreuung gewährleisten dürften.
Die Eignungsbekanntmachungen seien zudem fehlerhaft, da Eignungsanforderungen in der Bekanntmachung nicht genannt worden seien. Dies verstoße gegen den Transparenzgrundsatz.
Nach Akteneinsicht hat sie mit Schriftsatz vom 25.05.2021 darüber hinaus gerügt, dass Unterkriterien verwendet worden seien, die vorher nicht bekannt gegeben wurden. Die Angebotswertung sei intransparent, da die Bieter maximal große Freiheiten bei der Beantwortung qualitativer Kriterien gehabt hätten, was jedoch bei der Bewertung zu einer Verpflichtung der sorgfältigen Begründung führe. Die Bewertung ihres eigenen Angebots sei mehrfach fehlerhaft.
Bei der Wertung im Bereich "Reinigungstechnik" habe sie nach Akteneinsicht die volle Punktzahl erreicht, dennoch sei ihr im Rahmen der Vorabinformation mitgeteilt worden, dass wirtschaftlichere Angebote vorlägen.
Die Wertung im Bereich der "Objektorganisation", dort Einarbeitung, als "mangelhaft" trotz ihrer Stellung als Bestandsunternehmerin bei Erbringung sehr guter Leistungen sei ermessensfehlerhaft.
Die Wertung im Bereich "Qualitätscheck" als "ausreichend" sei nicht nachvollziehbar. Gemäß dem von ihr durchlaufenen und nach DIN 13549 zertifizierten Qualitätscheck erbringe sie nachweisbar sehr gute Qualität.
Darüber hinaus sei die Dokumentation nicht ausreichend.
Die Vergabekammer hat die Antragsgegnerin verpflichtet, bei fortbestehender Vergabeabsicht das Verfahren in den Stand vor dessen Bekanntmachung zurückzuversetzen und dies wie folgt begründet:
Präkludiert sei die Rüge der fehlerhaften Eignungsbekanntmachung. Dieser vermeintliche Verstoß sei bereits aus der Bekanntmachung erkennbar gewesen und nicht vor Einlegung des Nachprüfungsantrags gerügt worden.
Nicht präkludiert sei dagegen die Rüge der fehlerhaften Bekanntmachung von Bewertungskriterien. Die Antragstellerin habe insoweit keine positive Kenntnis im Sinne von § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB gehabt. Auch nach § 160 Abs. 3 Nr. 2 GWB sei die Rüge nicht präkludiert. Eine potentielle Erkennbarkeit für die nicht bekannt gemachten Bewertungskriterien sei nicht gegeben. Weder aus der Bekanntmachung noch den Vergabeunterlagen hätten die Bieter darauf schließen können, nach welchen Kriterien die Antragsgegnerin ihre Angebote im Hinblick auf die drei Leistungskriterien bewerten würde. Hinsichtlich des Kriteriums "Reinigungstechnik" sei für die Bieter noch nicht einmal erkennbar gewesen, dass ihre Angaben überhaupt verschiedene Bewertungen nach sich ziehen könnten. Die dort aufgeführten Auswahlmöglichkeiten hätten sich vielmehr bei objektiver Betrachtung als gleichwertig dargestellt. Für die Bieter sei offen gewesen, ob unterschiedliche Angaben unterschiedliche Punkte nach sich ziehen würden oder gleichwertig seien. Es sei zudem nicht erkennbar gewesen, welche Angaben besser oder schlechter bewertet würden.
Der Nachprüfungsantrag sei auch begründet. Die Antragsgegnerin habe den Bietern im Voraus aufgestellte Wertungsgrundlagen vorenthalten. Dies beziehe sich auf die Bewertungsmatrix, anhand derer erkennbar sei, mit welchen Punkten, welche Angaben der Bieter versehen werden sollten. Selbst wenn es einen Stand der Forschung hinsichtlich der Reinigungsmethoden geben sollte, nach welcher für jeden Bieter klar wäre, welche Reinigungsmethode einen besseren Reinigungserfolg verspreche, wäre in diesem Fall für die Bieter trotzdem nicht erkennbar, mit welchen Punkten die Angaben jeweils bewertet würden. Offen sei zudem, ob es überhaupt einen solchen Forschungsstand gebe.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin, die sie wie folgt begründet:
Die Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung in drei Leistungskennzahlen seien im Kriterienkatalog, Teil C der Ausschreibung aufgeführt worden. Die Arbeitsblätter 7 a bis c hätten dem digitalen Ausfüllen der geforderten Angaben zur Angebotsabgabe gedient. Im Kriterienkatalog würden unter Nr. 2 die Leistungskennzahlen L1 - ebenso wie für L2 und L3 unter Nr. 3 und Nr. 4 - und ihre Bewertung erläutert. Gemäß der Erläuterung, wonach unter dem Risiko in Bezug auf Hygiene und Reinigungsqualität die Dosier- und Anwendersicherheit verstanden werde, sei klar gewesen, dass die Methode mit dem niedrigsten Risiko für Hygiene und Qualität die meisten Punkte erhalte. Genau hieran habe die Antragstellerin auch ihr Angebot erfolgreich ausgerichtet. Das Ranking der Reinigungs- und Dosiermethoden im Hinblick auf ein möglichst geringes Risiko für Hygiene und Qualität sei der aktuellen Lehrmeinung im Reinigungshandwerk geschuldet. Es habe auch kein Bieter die Genauigkeit der Wertungsmethode bezweifelt.
Bei der Leistungskennzahl L2 sei es einerseits um den Einarbeitungsplan und zum anderen um die Objektbetreuung gegangen. Die Herabsetzung der Wertung beruhe auf den mangelhaften Angaben zur Erstschulung. Die Antragstellerin setze gegenwärtig Nachunternehmer ein; dies plane sie ausweislich ihres Angebots zukünftig nicht mehr. Damit bestehe ein Erstschulungsaufwand unabhängig von ihrer Stellung als Bestandsunternehmerin für die Leistungsbereiche der Lose 1 und 2.
Beim Qualitätscheck führten die Angaben, die zu einer größtmöglichen Sicherheit für qualitätssichernde Qualitätscheck führen, zur Höchstpunktzahl. Fachkundigen Bietern, die an Zertifizierungen nach ISO 9001 ff teilnehmen, sei erkennbar gewesen, was anzugeben gewesen sei. Die Angaben der Antragstellerin zu der Menge der jeweils untersuchten Flächen seien schlechter gewesen als die Angaben der meisten anderen Bieter.
Die Antragstellerin habe schließlich die nicht hinreichende Bekanntmachung der Zuschlagskriterien weder gerügt noch im Verfahren vorgetragen. Prüfungen von Amts wegen seien auf schwerwiegende Vergabefehler zu beschränken.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Beschluss der Vergabekammer des Landes Hessen vom 18.11.2021 -
69 d-VK-13/2021 aufzuheben, den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen und der Antragstellerin die notwendigen Kosten beider Instanzen, einschließlich der der Beigeladenen, aufzuerlegen.
Die Antragstellerin beantragt,
die sofortige Beschwerde zurückzuweisen;
hilfsweise, festzustellen, dass die Antragstellerin im vorliegenden Vergabeverfahren in ihren Rechten verletzt worden ist und das Vergabeverfahren zur Beseitigung der Rechtsverletzung in den Stand vor der Angebotswertung zurückzuversetzen ist,
der Antragsgegnerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin aufzuerlegen.
Zur Begründung führt sie wie folgt aus:
Es bestünden bereits Bedenken gegen die Zulässigkeit der Beschwerde, da der Beschwerdeschrift nicht entnommen werden könne, ob die Unterzeichnerin Volljuristin sei gem. § 172 Abs. 3 S. 2 GWB.
Der Nachprüfungsantrag sei entgegen den Angaben der Antragsgegnerin zulässig; sämtliche Vergabeverstöße seien gerügt worden; naturgemäß hinsichtlich der Wertungsfehler erst nach erfolgter Akteneinsicht mit Schriftsätzen vom 19.3. und 25.5.2021.
Die Antragsgegnerin habe gegen § 127 Abs. 5 GWB verstoßen, wonach die Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen aufgeführt werden müssten. Sie habe qualitative Zuschlagskriterien verwendet, da sie in einer Art Fragebogen Antworten durch Ankreuzen von Alternativen bzw. Zahlenwerte abfragte. Sie habe aber nicht angegeben, dass und wie sie diese Fakten qualitativ unterschiedlich einschätze. Stattdessen habe sie es den Bietern überlassen, zu erraten, welche Variante besser oder schlechter abschneiden werde. Die Schulnotenrechtsprechung sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Weder liege eine funktionale Ausschreibung vor noch sei ein erwartungsoffenes Konzept abgefragt worden. Die Bieter hätten vielmehr konkrete Alternativen ankreuzen müssen. Es habe gerade kein Know-how-Vorsprung der Bieter bestanden.
Für das Kriterium "Objektorganisation" habe es Umrechnungsformeln gegeben, nach denen die Angaben in die Wertung überführt worden seien. Diese Formeln hätten bekannt gemacht werden müssen.
Für das Kriterium "Qualitätssicherung" habe es offenbar unterschiedliche Multiplikatoren und verschiedene Faktoren gegeben, mit denen die Angaben multipliziert worden seien. Damit lägen auch hier Unterkriterien vor, die zwingend hätten bekannt gegeben werden müssen.
Sofern die Beschwerde erfolgreich wäre, wäre jedenfalls auf ihre Anschlussbeschwerde hin die vorgenommene Wertung selbst zu überprüfen.
Zu prüfen sei auch der zwingende Ausschluss anderer Angebote. Unter Berücksichtigung des minimalen Stundenverrechnungssatz von 20,78 pro Stunde multipliziert mit den Flächen ergäben sich niedrigste mögliche Bruttopreise, die hier über den niedrigsten abgegebenen Preisen lägen. Unterhalb dieser Mindestpreise liegende Angebote seien zwingend auszuschließen und dürften nicht bezuschlagt werden.
Die Antragsgegnerin wendet sich gegen die Anschlussbeschwerde, die ihrer Ansicht nach bereits nicht wirksam eingelegt worden sei. Jedenfalls habe sie inhaltlich keinen Erfolg. Die Maße und Anforderungen der zu reinigenden Objekte und ihre Besonderheiten seien ordnungsgemäß bekannt gegeben worden. Teil C enthalte eine Bekanntmachung der Wertungskriterien "Preis" und der "Leistungskennzahlen" L1 bis L3. Hinsichtlich L1 seien die Unterkriterien nach Oberflächen und Fußböden sowie im Weiteren nach Wischtechnik und Dosiermethode unterschieden worden; hinsichtlich L2 seien die Unterkriterien Einarbeitungsplan und Objektbetreuung unterschieden worden und hinsichtlich L3 die Unterkriterien Qualitätscheck sowie Schulungen. Die Angabe von Antworten und die Bekanntgabe von Punkten für jeweilige Antworten sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht erforderlich.
Zudem hat sie ihre Zulassung als Rechtsanwältin nachgereicht.
Die Antragstellerin betont, sie habe innerhalb der gesetzten Erwiderungsfrist eine unselbstständige Anschlussbeschwerde eingelegt. Die Schulnoten-Rechtsprechung des BGH sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da keine ergebnisoffenen Konzepte abgefragt worden seien, sondern binäre Angaben. Hierfür habe es eine festgelegte Auswertung gegeben. In einem solchen Fall müsse eine derartige Wertung auch transparent bekannt gemacht werden.
II.
Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet (unter 1.); die Anschlussbeschwerde der Antragstellerin ist teilweise begründet (unter 2.).
1. Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig (unter a.) und begründet (unter b.).
a. Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden. Die den Beschwerdeschriftsatz Unterzeichnende ist auch postulationsfähig gem. § 172 Abs. 3 S. 1 GWB ausweislich ihrer nunmehr vorgelegten Zulassung als Rechtsanwältin.
b. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Das Vergabeverfahren leidet nicht an einem Transparenzmangel.
Die Rüge der Antragstellerin ist zulässig (unter aa.), aber unbegründet (unter bb.). Der Verpflichtung, Zuschlagskriterien nebst Unterkriterien und ihrer Gewichtung bekanntzumachen, ist die Antragsgegnerin nachzugekommen (unter (1)). Eine weitergehende Verpflichtung, die verwendete Bewertungsmatrix bekanntzumachen, besteht dagegen im hiesigen Fall nicht (unter (2)).
aa. Zu Recht ist die Vergabekammer davon ausgegangen, dass die erhobene Rüge der Verletzung des Transparenzgrundsatzes im Hinblick auf die Bekanntmachung der angewandten Bewertungsmaßstäbe und ihrer Methode zulässig ist.
(1) Die Antragstellerin ist mit dieser Rüge nicht präkludiert i.S.d. § 160 Abs. 3 GWB.
Die Bewertungsmatrix selbst ist der Antragstellerin erst durch die im Verfahren vor der Vergabekammer erfolgte Akteneinsicht bekannt geworden. Damit bestand kein Ansatzpunkt für eine Rügeobliegenheit bereits im Vorfeld des Nachprüfungsverfahrens nach § 160 Abs. 3 GWB.
Soweit die Antragstellerin zudem die fehlende Angabe tatsächlich verwendeter Unterkriterien und ihrer Gewichtung rügt, ist sie auch mit dieser Rüge nicht gem. § 160 Abs. 3 GWB präkludiert. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragstellerin den nunmehr geltend gemachten Verstoß gegen Transparenzvorschriften vor Einreichung des Nachprüfungsantrags positiv erkannt hatte im Sinne von § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB.
Auch eine Erkennbarkeit des gerügten Verstoßes gegen Transparenzvorschriften i.S.d. § 160 Abs. 3 Nr. 3 GWB lässt sich hier nicht bejahen. Die Frage der Erkennbarkeit ist objektiv zu beurteilen und muss sich sowohl auf die den Verstoß begründenden Tatsachen als auch auf deren rechtliche Beurteilung beziehen (vergleiche OLG Düsseldorf, Beschluss vom 08.03.2017 - VII Verg 39/16 zitiert nach beck-online Rn. 23). Ein sorgfältig handelndes Unternehmen muss demnach den Vergabeverstoß erkennen können, ohne besonderen Rechtsrat einholen zu müssen. Ob im Falle einer anwaltlichen Beratung ein höherer individueller Sorgfaltsmaßstab Anwendung findet, kann vorliegend offenbleiben. Es ist nicht feststellbar, dass die nunmehrigen Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin bereits bei Übersendung der Vergabeunterlagen für sie tätig waren.
Von einem durchschnittlichen Bieter konnte der von der Vergabekammer bejahte Transparenzverstoß ohne anwaltlichen Rat bei Anwendung üblicher Sorgfalt und bei üblichen Vergaberechtskenntnissen nicht erkannt werden. Die Unterkriterien selbst sind zwar bereits den Vergabeunterlagen gem. Teil A i.V.m. Anlage 7 und ihre Gewichtung den Vergabeunterlagen Teil C zu entnehmen gewesen. Eine Zusammenschau dieser umfangreichen Unterlagen führte aber allein zur Tatsachenkenntnis. Damit war vorliegend nicht die Kenntnis der gerügten Vergabewidrigkeit verbunden. Die Transparenzanforderungen - insbesondere auch bei Verwendung von Bewertungssystemen - können vielmehr dem Gesetz selbst nicht entnommen werden. Sie werden allein durch die Rechtsprechung unter Rückgriff auf den allgemeinen Transparenzgrundsatz in § 97 Abs. 1 GWB ausgeformt, die überdies im Fluss ist. Von einem durchschnittlich erfahrenen Bieter kann nach Einschätzung des Senats keine Kenntnis der sich noch entwickelnden Rechtsprechung zur Transparenz von Bewertungsmaßstäben verlangt werden (vergleiche auch Senat, Beschluss vom 26.6. 2016 - 11 Verg 4/16; OLG Düsseldorf a.a.O.).
(2) Die Antragstellerin ist auch antragsbefugt gemäß § 160 Abs. 2 GWB. Sie hat dargelegt, dass der gerügte Vergabeverstoß ihre Zuschlagschancen verschlechtert hat. Dies gilt auch, soweit sie für das Leistungskriterium "Reinigungstechnik" die volle Punktzahl erhalten hat. Die Antragstellerin hat überzeugend ausgeführt, dass sie bei Kenntnis der Unter- bzw. Unterunterkriterien und ihrer Gewichtung sowie der Bewertungsmatrix ggf. schlechter bepunktete Alternativen angekreuzt hätte, um dann insgesamt ein preislich günstigeres Angebot abgeben zu können. Damit hätte sie ihre Wertung insgesamt verbessern und damit ihre Zuschlagschancen erhöhen können.
bb. Der Nachprüfungsantrag ist hinsichtlich der erhobenen Transparenzrüge indes unbegründet.
(1) Die Antragsgegnerin hat die verwendeten Zuschlagskriterien und deren Gewichtung ordnungsgemäß bekannt gemacht.
Gemäß § 127 Abs. 5 GWB sind die Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen aufzuführen. Neben diesen Bekanntmachungsverpflichtungen in § 127 Abs. 5 GWB wird dem Transparenzgrundsatz aus § 97 Absatz 1 S. 1 GWB nach ganz herrschender Meinung auch die Verpflichtung zur Veröffentlichung von bei der Bekanntmachung bereits aufgestellten Unterkriterien und deren Gewichtung entnommen (EuGH, Urteil vom 14.7.2016 - C-6/15 - Dimarso; BGH, Beschluss vom 4.4.2017 - X ZB 3/17 - Postdienstleistungen; OLG Celle, Beschluss vom 2.2.2021 - 13 Verg 8/20; Opitz in: Beckscher Vergaberechtskommentar, 3. Aufl., § 127 Rn. 148 mit zahlreichen Nachweisen; Steck in: Ziekow/Völlink, 4. Aufl., Vergaberecht, § 58 Rn. 32; Lausen in: Beckscher Vergaberechtskommentar, 3. Aufl., § 58 Rn. 10). Unterkriterien sind dabei solche Kriterien, die der Ausfüllung und näheren Bestimmung eines Hauptkriteriums dienen und präziser darstellen, worauf es dem Auftraggeber ankommt (vgl. Senat, Beschluss vom 22.9.2020 - 11 Verg 7/20).
Diesen Anforderungen genügt die Ausschreibung:
Die Zuschlagskriterien der hiesigen Ausschreibung in Form von "Preis" und "Leistung" können den Vergabeunterlagen, Teil A, Ziff. 10.3 transparent entnommen werden. Dies gilt auch für die paritätische Gewichtung von jeweils 50 %. Darüber hinaus wird in Ziff. 10.3 auch deutlich ausgeführt, dass für das Zuschlagskriterium "Leistung" wiederum Unterkriterien in Form von "Reinigungstechnik", "Objektorganisation" und "Qualitätssicherung" bestehen, die jeweils mit max. 300 Punkten gleichgewichtet das Leistungskriterium abbilden.
Hinsichtlich dieser Unterkriterien können Ziff. 10.3 zudem die bestehenden Unterunterkriterien und ihre Gewichtung entnommen werden. Demnach untergliedert sich das Unterkriterium "Reinigungstechnik" wiederum in die Unterunterkriterien "Oberflächen" und "Fußböden", die jeweils mit 150 Punkten in die Wertung einfließen. Das Unterkriterium "Objektorganisation" gliedert sich wiederum in die Unterunterkriterien "Einarbeitung" und "Objektbetreuung", wobei auf die Einarbeitung 100 Punkte maximal entfallen können und auf die Objektbetreuung 200 Punkte. Schließlich lässt sich Ziff. 10. 3 auch entnehmen, dass das Unterkriterium "Qualitätssicherung" in die Unterunterkriterien "Qualitätschecks" und "Schulungen" aufgegliedert wurde, wobei auf die Qualitätschecks max. 200 Punkte und die Schulungen max. 100 Punkte entfallen.
Schließlich enthielt der Teil C der Vergabeunterlagen unter Ziffer 2. bis 4. die Erläuterung zur Vergabe der Leistungspunkte hinsichtlich der einzelnen Unterunterkriterien. Demnach untergliederten sich die möglichen Leistungspunkte für das Unterkriterium "Reinigungstechnik" und die dortigen Unterunterkriterien in vier mögliche Punktestufen. Für die Unterkriterien "Objektorganisation" und "Qualitätssicherung" untergliederten sich die Leistungspunkte für die jeweiligen Unterunterkriterien in sieben Punktestufen.
Die verwendeten Zuschlagskriterien, Unterkriterien und Unterunterkriterien sowie ihre Gewichtung waren damit Teil A i.V.m. Teil C der Vergabeunterlagen zu entnehmen und hinreichend transparent bekannt gemacht worden.
Ausweislich der Fragebögen in Anlage 7 der Vergabeunterlagen erfolgten darüber hinaus weitere Untergliederungen der soeben aufgeführten Unterunterkriterien. So wurde etwa im Bereich des Unterkriteriums "Reinigungstechnik", dort Unterunterkriterium "Obenarbeiten" eine weitere Untergliederung in "Reinigungsmethode" einerseits und "Dosiermethode" andererseits vorgenommen; bei der "Reinigungsmethode" im Bereich der "Obenarbeiten" erfolgte etwa eine Untergliederung in die Methode selbst (3-4 Farben Methode mit jeweils einem Tuch und Wechseltuchmethode) und das verwendete Material (Mikrofaser und Mischgewebe).
Ob diese Untergliederungen überhaupt selbständige Unterunterunterkriterien darstellen, kann im Ergebnis offenbleiben. Sie ließen sich jedenfalls ebenfalls deutlich den Vergabeunterlagen, zu denen der Fragebogen zählte, entnehmen. Auch wenn die jeweiligen Untergliederungen nicht optisch hervorgehoben worden waren, haben die mit dem ausgeschriebenen Leistungsgegenstand vertrauten Bieter unstreitig die jeweiligen Untergliederungen im Sinne des Auftraggebers verstanden und korrekt ausgefüllt. Nachfragen oder Rügen wurden nicht erhoben; Unsicherheiten hinsichtlich der Bewertung im Einzelfall hat auch die Antragstellerin nicht dargetan. Ihr in der mündlichen Verhandlung beispielhaft herangezogener Verweis auf die Wertigkeit "Mikrofasertuch" einerseits und "Tuch aus Mischgewebe" andererseits spricht vielmehr für das in den durchschnittlich erfahrenen Bieterkreisen insoweit vorhandene Verständnis.
Damit liegt eine hinreichende Transparenz vor. Dies gilt auch für die Wertung dieser Angaben, die sich nach dem oben dargestellten System zur Vergabe der Leistungspunkte gem. Teil C der Vergabeunterlagen, dort Ziff. 2. bis 4. richtete. Zu berücksichtigen ist insoweit auch, dass die Antragstellerin ihren eigenen Angaben nach im Bereich der vorausgegangenen Ausschreibung 2017 im Bereich der Reinigungstechnik - der dem Kriterium L1 vorliegend entspricht - die volle Punktzahl erzielt hatte. Sie habe - so ihr Vortrag - die identischen Angaben erneut eingetragen; angesichts ihrer Vorerfahrung hatte sie damit zudem einen eigenen Referenzmaßstab, der vorliegend auch nicht abweichend angewandt worden war. Entgegen der Mitteilung im Rahmen der Vorabinformation hat die Antragstellerin erneut die volle Punktzahl für den Bereich Reinigungstechnik erzielt.
Infolge fehlender Transparenz ausgelöste Unklarheiten im Bereich der Wertung der Kriterien L2 und L3 trägt die Antragstellerin nicht vor.
(2) Ohne Erfolg rügt die Antragstellerin, dass auch die angewandte Bewertungsmethode hätte bekannt gegeben werden müssen.
Gemäß § 127 Abs. 5 GWB bezieht sich die gesetzliche Transparenzpflicht auf die Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung. Soweit - wie ausgeführt - auch Unter- bzw. Unterunterkriterien zur Verdeutlichung des Beschaffungsbedarfs des Auftraggebers bekannt zu machen sind, erstreckt sich dies nach höchstrichterlicher Rechtsprechung und herrschender Meinung in der Literatur jedoch nicht gleichermaßen auch auf die jeweils angewandte Bewertungsmethode (EuGH a.a.O. - Dimarso; BGH a.a.O. - Postdienstleistungen; OLG Celle a.a.O; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 8.3.2017 - VII Verg 39/16; Wiedemann in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, § 128 Rn. 98; Ziekow in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 127 Rn. 44):
So betonte der EuGH (Urteil vom 14.07.2016 - C-6/15 - Dimarso) ausdrücklich, dass zwar auch die Unterkriterien zwingend bekanntzumachen sind, sofern sie bei der Bewertung berücksichtigt werden sollen. Dies gilt auch für das Gewicht der Zuschlagskriterien - und damit auch Unterkriterien. Gewichtungskoeffizienten (die Bewertungsmethoden) dagegen umfasst diese Verpflichtung nicht; sie können auch später festgelegt werden, sofern sie die Zuschlagskriterien nicht ändern, sie nichts enthalten, was bei der Vorbereitung des Angebots die Vorbereitung hätte beeinflussen können und keine Diskriminierung zu besorgen ist (a.a.O. Rn. 26). Entsprechend hat auch der BGH nachfolgend ausgeführt, dass eine Bewertungsmatrix selbst nicht bekannt gemacht werden muss (BGH, Beschluss vom 4. 4. 2017-X ZB 3/17 - Postdienstleistungen).
Soweit das OLG Düsseldorf früher gefordert hatte, dass aufgestellte Bewertungsmaßstäbe etwa in Form eines Wertungsschemas den Bietern mit den Vergabeunterlagen zugänglich zu machen sind, damit diese den geforderten Erfüllungsgrad erkennen und ihr Angebot darauf ausrichten können (Beschluss vom 19.06.2013 - Verg 8/13), hält es daran im Hinblick auf die genannte Entscheidung des EuGH nicht mehr fest (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 08.03.2017 - VII Verg 39/16 zitiert nach beck-online Rn. 29ff). In Übereinstimmung mit dem EuGH - und BGH - vertritt auch das OLG Düsseldorf nunmehr ebenfalls die Ansicht, dass die Bewertungsmethode selbst den Bietern nicht zur Kenntnis gebracht werden muss, sofern sie an den bekannt gemachten Zuschlagskriterien und ihrer Gewichtung keine Veränderung bewirkt.
Diese Grundsätze gelten entgegen der Ansicht der Antragstellerin unabhängig davon, ob eine funktionale Ausschreibung zu beurteilen ist oder nicht. Weder der Rechtsprechung noch der Kommentarliteratur ist eine derartige Differenzierung zu entnehmen (vgl. EuGH a.a.O. - Dimarso; BGH a.a.O. - Postdienstleistungen; OLG Celle a.a.O; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 8.3.2017 - VII Verg 39/16; Wiedemann in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, § 128 Rn. 98; Ziekow in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 127 Rn. 44). Die Antragstellerin führt insoweit auch keine eigenen Nachweise ein.
Der Senat sieht auch inhaltlich keinen Grund für eine derartige Differenzierung:
Der geforderte Detaillierungsgrad der Bekanntgabe richtet sich nach seiner Funktion, dies ist im konkreten Einzelfall zu beurteilen (Wiedemann a.a.O. Rn. 100). Der Transparenzgrundsatz soll es dem Bieter ermöglichen, zu erkennen, auf welche Gesichtspunkte es dem Auftraggeber in welchem Maße ankommt, so dass er sein Angebot nach den Bedürfnissen des Auftraggebers optimal gestalten kann. Erforderlich bleibt damit weiterhin, Zuschlagskriterien einschließlich gegebenenfalls notwendiger Unterkriterien und ihrer Gewichtung sorgfältig zu formulieren und nicht durch ein reines Schulnotensystem zu ersetzen (OLG Düsseldorf ebenda). Grundsätzlich muss aber der Bieter nicht im vornherein erkennen können, welchen bestimmten Erfüllungsgrad sein Angebot auf der Grundlage der Zuschlagskriterien erreichen muss, um mit einer bestimmten Notenstufe bzw. Punktzahl eines Notensystems bewertet zu werden. Die Grenze, ab der das Offenlassen von Bewertungsmaßstäben vergaberechtlich unzulässig ist, ist erreicht, wenn die aufgestellten Wertungsmaßstäbe so unbestimmt sind, dass sich der Bieter nicht mehr angemessen über die Kriterien und Modalitäten informieren kann, anhand derer das wirtschaftlichste Angebot ermittelt wird (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.7.2009 - VII Verg 10/09).
Ausgehend hiervon war die Antragsgegnerin angesichts der vorhandenen Informationen über die Zuschlagskriterien, Unter- und Unterkriterien sowie deren Gewichtung nicht verpflichtet, auch das von ihm verwendete Bewertungsschema für die Bewertung der Fragebögen gemäß Anlage 7 der Vergabeunterlagen im Vorwege bekannt zu machen. Die dort vorgenommene Bewertung beruht auf der bekannt gemachten Vorgabe für die Verteilung der Leistungspunkte gem. Teil C der Vergabeunterlagen, dort Ziff. 2. bis 4, die wiederum in das System der Zuschlagskriterien und ihrer Gewichtung gem. Ziff. 10.3 Teil A der Vergabeunterlagen eingebettet war. Berücksichtigt wurden ausschließlich Angaben der Bieter, deren Maßgeblichkeit sich aus den bereits oben zitierten Angaben zu den Zuschlagskriterien, Unter- und Unterunterkriterien sowie des Fragebogens für einen durchschnittlich informierten Bieter ergaben. Schließlich führten sie - und dies behauptet auch die Antragstellerin nicht - auch nicht zu einer Abänderung der veröffentlichten Gewichtung der Zuschlagskriterien und der jeweiligen Unterkriterien.
Soweit in Einzelfällen bei komplexen Auftragsgegenständen und vielschichtigen Wertungskriterien gegebenenfalls der Auftraggeber aus Transparenzgründen verpflichtet sein könnte, seine Vorstellungen oder Präferenzen zum denkbaren Zielerreichungsgrad zu erläutern und bekannt zu geben und damit Anhaltspunkte für eine günstige oder ungünstige Benotung vorzugeben (vergleiche BGH, Beschluss vom 04.04.2017 - X ZB 3/17 - Postdienstleistungen -), liegt hier keine vergleichbare Situation vor. Die Antragstellerin verweist selbst darauf, dass es sich im Wesentlichen um ein binär durch ja/nein Fragen abgefragtes Leistungsspektrum handelt. Als zertifiziertes Unternehmen verfügte die Antragstellerin auch über Kenntnisse hinsichtlich des Stands der Reinigungstechnik.
1. Die zulässige (unter a.) Anschlussbeschwerde der Antragstellerin ist teilweise begründet (unter b.).
a. Die Anschlussbeschwerde der Antragstellerin ist zulässig.
Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 17.12.2021 wirksam eine unselbständige Anschlussbeschwerde eingelegt.
Entsprechend den Vorschriften der ZPO ist auch ohne gesetzliche Normierung im Beschwerdeverfahren vor dem Vergabesenat eine Anschlussbeschwerde statthaft (vgl. BGH, Beschluss vom 4.4.2017 - X ZB 3/17 - Postdienstleistungen; Ziekow in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, § 171 Rn. 9). Sie kann nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bis zum Ablauf der Beschwerdeerwiderungsfrist eingelegt werden analog §§ 524 Abs. 2, 511 ZPO (BGH, a.a.O.). Diese Frist wurde hier gewahrt.
Soweit die Antragsgegnerin rügt, dass die Einlegung hier nicht - wie für ein Rechtsmittel erforderlich - "unbedingt" erfolgt sei, kann dem nicht gefolgt werden. Die Antragstellerin hat mit ihrem Klammerzusatz "unselbständige Anschlussbeschwerde" (Bl. 65 Vergabeakte) hinreichend deutlich gemacht, dass sie eine unselbständige Anschlussbeschwerde einlegt. Die gewählte Formulierung, dass die Angebotswertung dann (im Fall der Stattgabe der sofortigen Beschwerde) selbst zu prüfen "wäre", ist ersichtlich auf die prozessuale Situation zugeschnitten, wonach nur im Erfolgsfall der sofortigen Beschwerde ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anschlussbeschwerde besteht. Aus ihr folgt nicht, dass die Antragstellerin insgesamt die Anschlussbeschwerde unter eine irgendwie geartete Bedingung stellen wollte. Es wäre auch nicht ersichtlich, welcher Art eine solche Bedingung sein sollte. Denknotwendig kommt die Anschlussbeschwerde nur dann zum Tragen, wenn auf die sofortige Beschwerde hin der die Antragstellerin begünstigende Beschluss der Vergabekammer abgeändert wird.
a. Die Anschlussbeschwerde hat teilweise Erfolg.
aa. Hinsichtlich der mit der Anschlussbeschwerde weiterverfolgten Rügen des fehlenden Ausschlusses von Angeboten unterhalb des Mindestpreises und der fehlerhaften Wertung bzw. Dokumentation war der Nachprüfungsantrag teilweise zulässig.
Die Vergabekammer hat zu Recht ausgeführt, dass diese genannten Rügen rechtzeitig erhoben wurden und damit keine Präklusion nach § 160 Abs. 3 GWB vorliegt.
Für die Rüge der fehlerhaften Wertung bzw. Dokumentation fehlt es allerdings hinsichtlich Los 3 an der Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB. Für die Darlegung eines entstandenen oder drohenden Schadens durch die gerügte Vergabepflichtverletzung bedarf es jedenfalls Vortrags dazu, dass und aufgrund welcher Umstände im Fall einer anderen Wertung das Angebot eine aussichtsreiche Rangstelle erreichen kann (vgl. Diecks in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, § 160 Rn. 34). Daran fehlt es hier: Die Antragstellerin hat nicht darlegen können, dass die gerügte vergabewidrige Wertung ihres Angebots zu Los 3 ihre Zuschlagschancen kausal verschlechtert hat. Selbst bei potentieller Vergabe der vollen Punktzahl für die von der Antragstellerin aufgegriffenen fehlerhaft gewerteten Leistungskriterien L2 und L3, würde die Antragstellerin mit ihrem Angebot noch deutlich hinter dem der Bestplatzierten liegen. Der Antragstellerin fehlten insgesamt 200 Leistungspunkte gegenüber der Bestpunktzahl, wovon 80 Punkte auf das Leistungskriterium L2 (Einarbeitung) und 120 Punkte auf das Leistungskriterium L3 (Qualitätscheck) entfallen. Auch bei voller Punktzahl hinsichtlich der beiden Leistungskriterien würde die Antragstellerin insgesamt nicht das derzeit beste Preis-Leistungs-Verhältnis der Beigeladenen zu 2) in Frage stellen können; sie würde weiterhin deutlich weniger Leistungspunkte erzielen und liegt zudem preislich über dem Angebot der Beigeladenen zu 2).
Hinsichtlich Los 1 und 2 ist dagegen von einer Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB auszugehen. Nicht erforderlich ist insoweit, dass die Antragstellerin bei Erfolg der Rüge sicher auf den ersten Platz rücken würde (Dicks ebenda § 160 Rn. 34). Das Angebot muss jedoch auf einen aussichtsreichen Platz gelangen - dies ist vorliegend der Fall: Die Antragstellerin würde bei voller Punktzahl für die Kriterien L2 und L3 sowohl bei Los 1 als auch bei Los 2 knapp über den Leistungspunkten der derzeitigen Bestbieterin liegen und hat zudem ein preislich günstigeres Angebot abgegeben.
bb. Soweit der Antrag zulässig ist, ist er hinsichtlich der Rüge, dass die Antragsgegnerin gegen die von ihr aufgestellten Mindestpreisanforderungen verstoßen habe, unbegründet (unter (1)), hinsichtlich der Rüge der rechtswidrigen Angebotswertung dagegen teilweise begründet (unter (2)).
(1) Gemäß den Vergabeunterlagen betrug der Mindeststundensatz 20,78 /h. Gem. Ziff. 4.3. Teil B der Vergabeunterlagen (VI 23) sollten Angebote von der Wertung ausgeschlossen werden, wenn der Stundenverrechnungssatz unterschritten wird. Außerdem hatte der Antragsgegner vorgegeben, welche Fläche maximal in einer Stunde zu reinigen war. Gem. Ziff. 4.4 Teil B der Vergabeunterlagen sollten damit qualitätsgefährdende Leistungswerte vermieden werden. Auch hier war ein Ausschluss bei Verstoß angedroht worden. Die von der Antragstellerin aus diesen beiden Parametern ermittelten Mindestwerte hat die Antragsgegnerin nicht bestritten. Unstreitig hat die Antragsgegnerin auf dieser Basis einen Bieter vom Vergabeverfahren ausgeschlossen.
Entgegen den Ausführungen der Antragstellerin liegen die für die Bezuschlagung vorgesehene Angebote der Beigeladenen zu 1) und 2) jedoch bei keinen Los unterhalb der von ihr ermittelten Bruttopreise, sondern jeweils nicht unwesentlich darüber.
(2) Teilweise Erfolg hat aber die Rüge der Antragstellerin, dass die Wertung ihres Angebots fehlerhaft bzw. nicht nachvollziehbar erfolgt sei.
Die Wertung der Angebote spiegelt wider, ob und wieweit die Bieter die vorgegebenen Zuschlagskriterien erfüllen. Dabei dürfen nur die veröffentlichten Zuschlagskriterien bzw. Unterkriterien nebst der angegebenen Gewichtung Berücksichtigung finden. Für sachwidrige Erwägungen ist kein Raum (OLG Saarbrücken Beschluss vom 13.11.2002 - 5 Verg 1/02). Die Basis der Wertungsentscheidung muss auf einem vollständigen und richtigen Sachverhalt beruhen.
Der dem Auftraggeber insoweit eingeräumte Wertungsspielraum muss sich zudem in einer auf die jeweiligen Angebote bezogenen, individuellen Stellungnahme wiederfinden, aus der hervorgeht, warum bestimmte Punktzahlen vergeben wurden (BGH, Beschluss vom 4.4.2017 - X ZB 3/17 - Postdienstleistungen; Müller-Wrede in: Müller-Wrede, GWB, § 128 Rn. 15). Die Wertung muss nachvollziehbar sein. Grundsätzlich sind bei der Bewertung die einzelnen Bewertungsschritte so zu begründen und zu dokumentieren, dass der Bieter das Ergebnis nachvollziehen und ggf. überprüfen lassen kann. Die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels müssen für die Bieter erkennbar werden. Gerade wenn die Angebotswertung nicht ausschließlich auf Basis des Preises erfolgt - wie hier -, sondern auch qualitative Elemente enthält, ist eine ausführliche Darstellung der Bewertungsmethodik und des Wertungsprozesses geboten (BGH, Beschluss vom 4.4.2017 - X ZB 3/17 - Postdienstleistungen).
Ausgehend hiervon ergibt sich Folgendes:
(a) Das Wertungsergebnis hinsichtlich des Kriteriums L 1 Reinigungstechnik ist nach Klarstellung seitens des Antragsgegners, dass es die höchstmögliche Punktzahl erhalten hat, nicht mehr Rügegegenstand.
(b) Teilweise mit Erfolg wendet sich die Antragstellerin allerdings hinsichtlich Los 1 und Los 2 gegen die Wertung des Kriteriums L2 "Objektorganisation". Gemäß Wertungsblatt wurden ihre Angaben für die Erstschulung bei allen drei Losen mit "mangelhaft" gewertet. Dies ist hinsichtlich Los 1 anhand der Angaben der Antragstellerin und der dokumentierten Wertungsschritte nicht nachvollziehbar und beruht - soweit im Vergabeverfahren Ausführungen hierzu gemacht wurden - auf einer unrichtigen Sachverhaltsannahme:
Die Bieter hatten im Rahmen der Anlage 7 die Möglichkeit, jeweils in mit "Weiteres" gekennzeichneten Feldern freien Text einzufügen. Der Antragsgegner hatte dabei auf Folgendes hingewiesen: "In den Anlagen wird die Gelegenheit gegeben "weiteres" einzutragen. Zur Vergleichbarkeit und gerechten Wertung bitte das "weiteres" kurz, leicht verständliche und nur bei Abweichung zu den Themen ausfüllen. Bei sehr langen Texten können gegebenenfalls nicht alle Informationen gewertet werden. Verweise auf Anlagen werden nicht gewertet."
Die Antragstellerin hatte die vorgesehenen Rubriken "Weiteres" sowohl beim Leistungskriterium L2 als auch L3 ausgefüllt. Beim Kriterium L2 hatte sie unter anderem ausgeführt: "Wir gehen bei unseren Angaben von einer Einarbeitungszeit von 6 Wochen aus. Da die Lose 1 und 2 Bestandsobjekte sind, haben wir bereits umfangreiche Kenntnisse über die Objekte. Im Auftragsfall werden wir auch hier alle Abläufe kritisch prüfen und anpassen. In der Implementierungsphase werden die Reinigungsarbeiten vor Ort täglich durch die für die Betreuung zuständigen Objektleiter überwacht. Nachschulung/Korrekturen finden bei Abweichung direkt vor Ort statt. Auch die Reviereinteilung wird in dieser Phase von Ihnen kritisch geprüft. Die erfahrenen Reinigungskräfte fungieren in der Einarbeitungsphase als Coaches für das Reinigungsteam und konzentrieren sich bei ihrer Tätigkeit vor Ort um die Einhaltung und Korrektur der Reinigungstechnik/Arbeitsweise der Reinigungskräfte. Auch hier wird im Bedarfsfall unverzüglich nachgebessert..."
Wie dieser Text in das Wertungsergebnis Eingang gefunden hat, lässt sich der dokumentierten Wertung nicht entnehmen. Dass er grundsätzlich im Rahmen der Wertung zu berücksichtigen ist, ergibt sich nicht nur aus dem Umstand, dass den Bietern Gelegenheit gegeben worden war, individuelle Erläuterungen in das Angebot zu integrieren, sondern auch - dem folgend - aus den eigenen Angaben der Antragsgegnerin zur oben zitierten Bedeutung der Rubrik "Weiteres".
Tatsächlich finden sich im Rahmen der dokumentierten Wertung jedoch keinerlei Ausführungen, die auf die Textangaben der Antragstellerin unter der Rubrik "Weiteres" bezogen sind. Dem Wertungsordner kann zwar eine tabellarische Zusammenstellung aller Kommentare unter "weiteres" der Bieter, auch der der Antragstellerin, entnommen werden. Welchen Einfluss diese Kommentare auf die Wertung hatten, lässt sich jedoch nicht ersehen; jedenfalls nicht in nachvollziehbarer Weise. Soweit sich tabellarisch hinter der Auflistung der Kommentare ein Blatt mit der Überschrift "Kommentare zur Vorwertung" findet, verhält sich dieses bereits an keiner Stelle zu den Angaben der Antragstellerin; inhaltlich erscheinen sie ebenfalls nicht nachvollziehbar.
Dieser Dokumentationsmangel wurde nur teilweise im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens geheilt:
Die Antragsgegnerin hatte dort das Wertungsergebnis damit begründet, dass die Antragstellerin übersehen habe, dass sie derzeit mit einer Nachunternehmerin tätig sei, so dass sie nunmehr im Rahmen der Neuausschreibung, die ohne Nachunternehmernennung erfolgte, ihre eigenen Mitarbeiter von Grund auf neu einarbeiten müsse.
Diese Begründung beruht hinsichtlich des Leistungsspektrums von Los 1 auf einer unrichtigen Sachverhaltsannahme hinsichtlich der Tätigkeit der Antragstellerin. Die Antragstellerin hatte bereits im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer ausgeführt, dass sie für den Leistungsbereich dieses Loses gegenwärtig die Arbeiten selbst ausführe und dies auch weiterhin so plane. Unstreitig enthält das Angebot der Antragstellerin auch keine Hinweise auf den geplanten Einsatz von Nachunternehmern. Die Antragsgegnerin hat auch nicht bestritten, dass gegenwärtig das Leistungsspektrum des Loses 1 mit eigenen Kräften der Antragstellerin erfüllt wird.
Damit ist die Wertung auf einer unrichtigen, für das Wertungsergebnis nicht irrelevanten Sachverhaltsannahme erfolgt. Es erscheint nachvollziehbar, dass die mit der Tätigkeit als Bestandsunternehmerin verbundenen umfangreichen Kenntnisse über das Objekt und dessen Anforderungen Auswirkungen auf die Einarbeitungskomplexität haben können. Damit wäre es erforderlich gewesen, im Rahmen der Wertungsdokumentation auf diesen Umstand und seine Berücksichtigung bei der Punktevergabe einzugehen.
Soweit die Antragsgegnerin ausführt, dass sie aus Gründen der Bietergleichheit etwaige Vorkenntnisse, die nicht Gegenstand von ihr aufgeführter Zuschlagskriterien waren, nicht berücksichtigen dürfe, überzeugt dies hier nicht. Der Gleichheitsgrundsatz in § 97 Abs. 2 GWB zielt auf die Gleichbehandlung sachlich vergleichbarer Fälle. Aus der Sphäre des Auftraggebers folgende Wissensvorsprünge gegenüber anderen Unternehmen sollen vermieden werden; dies ist etwa der Fall, wenn Unternehmen bereits im Vorfeld der Ausschreibung in der Markterkundungsphase einbezogen wurden (vgl. Lux in: Müller-Wrede, GWB, § 97 Rn. 45). Sachlich vorhandene unterschiedliche Kenntnisstände - etwa infolge der Eigenschaft als Bestandsunternehmen - führen jedoch notwendig zu Vorkenntnissen und/oder Vorteilen, die in die Ausgestaltung des Angebots auf eine Folgeausschreibung einfließen. Dies ist etwa der Fall, wenn im Softwarebereich eine Neuausschreibung auf der Vorgabe der Fortsetzung der Verwendung der Software des Bestandsunternehmers beruht, so dass für den Bestandsunternehmer kein Migrationsaufwand entsteht. Ebenso kann dem Bestandsunternehmer Orts- und Fachkenntnis hinsichtlich eines Objekts bei etwaig erforderlichen Schulungen zugutekommen, ohne dass damit der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird. Im Rahmen der erforderlichen Einarbeitung kann es demnach zu unterschiedlichen Aufwänden führen, je nachdem, ob Mitarbeiter eingewiesen werden müssen, die das Objekt bereits kennen oder eine vollständige Neueinweisung erfolgen muss.
Für das Los 2 lässt sich dagegen aus der fehlenden Dokumentation, wie die Angaben unter "Weiteres" in die Bewertung eingeflossen sind und der nachgetragenen Begründung des Antragsgegners nicht auf einen Wertungsfehler schließen.
Den eigenen Angaben der Antragstellerin nach erbringt gegenwärtig ein Tochterunternehmen von ihr, die A GmbH, die Leistungen. In der streitgegenständlichen Ausschreibung hat sie dagegen keinen Nachunternehmereinsatz angegeben. Damit wäre eine vollständige neue Einarbeitung der eigenen Kräfte erforderlich.
Sofern sie zwar angibt, dass auch weiterhin ihr Tochterunternehmen bei entsprechenden Zustimmung der Antragsgegnerin die Leistungen erbringen könnte, ist dies nicht Gegenstand der formellen Angebote. Diese beruhen vielmehr auf einer personellen Diskontinuität, so dass die Antragstellerin die vorgenommene Wertung nicht wegen des Gesichtspunktes der übersehenen Bestandsunternehmereigenschaft erfolgreich angreifen kann.
(c) Im Bereich des Leistungskriteriums L3 kann die Wertung im Bereich "Qualitätscheck" ebenfalls anhand der dokumentierten Unterlagen nicht nachvollzogen werden. Die Antragstellerin hatte hier insgesamt nur eine ausreichende Bewertung erhalten. Hinsichtlich der Häufigkeit der Checks wurde die Antragstellerin zwar bestbewertet, nicht aber hinsichtlich der Menge der untersuchten Räume. Dort erhielt sie vielmehr ein "mangelhaft", was insgesamt zu einer Bewertung als "ausreichend" führte.
Auch hier hatte die Antragstellerin das Textfeld "Weiteres" genutzt und u.a. wie folgt ausgeführt: "... Besonders wichtig sind daher Auswahl, Umfang und Ablauf der Qualitätskontrollen. Die elektronische Unterstützung in allen Prozessen ist aus unserer Sicht daher nicht nur hilfreich, sondern unumgänglich, um repräsentative unabhängige Qualitätsnachweise zu erhalten. Die Qualitätssicherung wird daher mehrstufig und ab der Vorarbeiterebene elektronisch mit Software1 (B & B) durchgeführt. Das Leistungsverzeichnis wird in Software1 eingepflegt. Die einzelnen Reinigungskomponenten werden von B & B mit Sollpunkten gewichtet. Aus der Punktebewertung wird später bei der Prüfung das Qualitätsergebnis abgeleitet. ..." Ferner wurde darauf hingewiesen, dass die Auswahl der Räume per Zufallsgenerator erfolge. Der Wert der Qualitätsprüfungen habe 2020 bei 94,41 % gelegen.
Eine Berücksichtigung dieser Angaben lässt sich den Unterlagen im Wertungsordner jedoch nicht entnehmen. Es findet sich zwar wiederum eine tabellarische Auflistung der Kommentare der Bieter innerhalb der Rubrik "Weiteres". Ebenfalls vorhanden ist ein Blatt, welches - wohl - eine Vorwertung der Kommentare enthält. Für die Antragstellerin enthält dieses Blatt keine Angaben zum Angebot der Antragstellerin; inhaltlich verständlich ist es ebenfalls nicht.
Diese Dokumentationsmängel hat die Antragsgegnerin auch nicht während des Nachprüfungsverfahrens heilen können. Sie hat dort zwar grundsätzlich die Bedeutung von Zertifizierungsprozessen betont. Nachfolgend hat sie jedoch darauf hingewiesen, dass nur vorhandene Angaben herangezogen werden. Eine Auseinandersetzung mit dem zitierten Kommentar unter "Weiteres" findet sich nicht. Dies deutet eher darauf hin, dass der Zertifizierungshinweis unter "Weiteres" entweder gar nicht zur Kenntnis genommen worden war oder jedenfalls nicht in die Wertung eingegangen ist.
Dieser Mangel betrifft sowohl die Wertung des Angebots Los 1 als auch Los 2. Da die Antragstellerin hinsichtlich Los 2 indes beim Leistungskriterium L2 - wie oben ausgeführt - keinen Wertungsfehler geltend machen kann, würde allein eine Neubewertung des Kriteriums L3 ihre Zuschlagschancen nicht verbessern. Ihr würden im Bereich der Leistungskriterien jedenfalls 80 Wertungspunkte weiterhin fehlen, so dass sie die Punktzahl der derzeit bestbewerteten Beigeladenen zu 2) nicht ansatzweise erreichen könnte. Im Ergebnis führt daher die berechtigte Rüge der Antragstellerin nur in Bezug auf das Los 1 zu einer Zurückversetzung des Vergabeverfahrens in den Stand vor der Angebotswertung.
III.
Die Kostenentscheidung für das Verfahren vor der Vergabekammer folgt aus § 182 Abs. 3 S. 1 GWB unter Berücksichtigung des anteiligen Unterliegens und Obsiegens. Dies umfasst auch die notwendigen Aufwendungen der Beigeladenen zu 2), hinsichtlich derer die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten angesichts der Komplexität der streitgegenständlichen Fragestellungen notwendig war. Die streitgegenständlichen Fragen insbesondere hinsichtlich der Anforderungen an die Transparenz der Zuschlagskriterien, ihrer Gewichtung und ggf. der Methode sowie die Wertung selbst sind komplex und bedürfen vertiefter vergaberechtlicher Kenntnisse.
Da sich die Beigeladene zu 2) im Verfahren vor der Vergabekammer aktiv beteiligt und eigene Anträge gestellt hatte, sind ihre Kosten anteilig von der Antragstellerin und der Antragsgegnerin zu erstatten. Dabei ist ihr auf die Zurückweisung des Nachprüfungsantrags gerichteter Antrag dahingehend auszulegen, dass im Hinblick auf ihre eigene Betroffenheit allein hinsichtlich Los 2 und 3 auch eine entsprechende Begrenzung des Antrags konkludent auf diese beiden Lose hin erfolgte.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens orientiert sich gem. §§ 175 Abs. 2, 71 GWB am Verfahrensausgang. Die Beigeladene zu 2) - ebenso wie die Beigeladene zu 1) - haben sich an diesem Verfahren nicht aktiv beteiligt, so dass insoweit kein Kostenausspruch veranlasst ist.
Die Wertfestsetzung folgt aus § 50 Abs. 2 GKG und beträgt 5 % der Bruttoauftragssumme. Grundlage der Wertbestimmung ist dabei der konkrete Preis des Angebots der Antragstellerin.
Wann besteht Anspruch auf Akteneinsicht im Unterschwellenbereich?
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LG Bonn
Urteil
vom 29.10.2021
1 O 221/21
1. Ein Anspruch auf Akteneinsicht setzt voraus, dass Anhaltspunkte für einen Vergabefehler vorliegen, das Ziel Fehlerquellen zu ermitteln genügt nicht.
2. Ein Akteneinsichtsrecht scheidet aus, wenn der Bieter die verlangten Informationen bereits vom Auftraggeber erhalten hat.
3. Aus § 46 Abs. 1 UVgO kann kein Anspruch auf Einsicht in ein Submissions- oder Eröffnungsprotokoll hergeleitet werden.
4. Es genügt, dem unterlegenen Bieter in Stichworten die Gründe seiner Nichtberücksichtigung mitzuteilen. Aus Datenschutz- und Vertraulichkeitsgründen dürfen die Vorteile und Merkmale des erfolgreichen Angebots abstrakt mitgeteilt, jedoch keine preislichen oder technischen Details bekannt gegeben werden.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreites werden der Klägerin auferlegt.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
Die Klägerin betreibt eine Werbeagentur, die sich auf die Erstellung von Broschüren und andere Marketingmaterialien für öffentliche Auftraggeber spezialisiert hat.
In einem unterschwelligen Vergabeverfahren schrieb die beklagte Hochschule verschiedene Grafikleistungen öffentlich aus. Im Rahmen dieser Ausschreibung reichte die Klägerin Angebotsunterlagen (Anlage H2 = Bl.39 - 260 d.A.) ein. Mit Schreiben vom 00.04.2021 (Anlage H3 = Bl.261 d.A.) teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihr der Zuschlag nicht erteilt werde, weil sie nicht das wirtschaftlichste Angebot nach § 43 UVgO abgegeben habe. Stattdessen sei der Auftrag der Firma A GmbH erteilt worden.
Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin beantragten daraufhin unter dem 00.04.2021 gegenüber der Beklagten Einsicht in die Vergabeakte (Anlage H4 = Bl.262 - 263 d.A.). Hierauf antworteten die Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 00.04.2021, dass keine Einsicht in der Vergabeakte gewährt werde (Anlage H5 = Bl.264 - 267 d.A.). Wegen der ungeachtet dessen für unterlegene Bieter bestehenden Möglichkeit, weitere Gründe für die Nichtberücksichtigung des Angebotes zu erhalten, verstünde man das Schreiben vom 00.04.2021 als Antrag gemäß § 46 Abs.1 Satz 3 UVgO, und übermittele folgende Informationen:
Ausweislich der mit der Ausschreibung veröffentlichen Wertungsmatrix wurden hier maximal 70 Punkte für Preis und 30 Punkte für die eingereichte Probearbeit vergeben. Gerade bei der Probearbeit wurde das hier für den Zuschlag vorgesehene Unternehmen deutlich besser bewertet als das Angebot Ihrer Mandantschaft. Dieser deutliche Vorsprung konnte von Ihrer Mandantschaft auch nicht mehr durch das preislich etwas günstigere Angebot aufgeholt werden. Folglich hat Ihre Mandantschaft nicht das wirtschaftlichste Angebot abgegeben. Der Zuschlag war ihr daher nicht zu erteilen.
Die Klägerin bestreitet mit Nichtwissen, dass die Angebote ordnungsgemäß durch die Beklagten geprüft worden seien. Sie vertritt die Rechtsansicht, sie benötige zwingend Akteneinsicht, um beurteilen zu können, ob ein Vergabefehler vorliege und ihr somit ein Anspruch auf Schadensersatz zustehe. Der Anspruch auf Akteneinsicht folge aus § 242 BGB und § 46 UVgO.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihr Akteneinsicht in die Vergabeakte des Vergabeverfahrens "A", Vergabe-Nr.: XXXXXXX in die Bewertung des Bestbietenden, dessen Namen und das Submissionsprotokoll zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte vertritt die Rechtsansicht, sie habe die Klägerin bereits in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang informiert. Ein Anspruch auf Akteneinsicht bestünde schon aus Gründen der Pflicht der Vergabestelle zur Geheimhaltung der Angebote sowie zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze sowie die zu den Akten gereichten Unterlagen Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
Die zulässige Klage ist in der Sache nicht begründet.
Zwar ist der Klageantrag gemäß § 133 BGB dahingehend auszulegen, dass die Klägerin nur Einsicht in die dort nach der Vergabe-Nummer genannten Einzelbestandteile der Vergabeakte begehrt. Denn zur Begründung ihres Begehrens führt die Klägerin in der Klageschrift aus, man habe vorgerichtlich zuletzt ausschließlich Einsicht betreffend des Submissionsergebnisses und der Bewertung und des Namens des Bestbietenden verlangt und deshalb ein berechtigtes Interesse an der Einsicht in bestimmte Vergabeunterlagen. Dieser Beschränkung entspricht der Wortlaut des Klageantrages.
Indes besteht ein derartiger Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte nicht.
1. Über § 46 Abs.1 der Verfahrensordnung für die Vergabe öffentlicher Liefer- und Dienstleistungsaufträge unterhalb der EU-Schwellenwerte (Unterschwellenvergabeverordnung) des Bundes vom 02.02.2017 (UVgO) kann die Klägerin schon deshalb die begehrte Akteneinsicht nicht beanspruchen, da ihr die von dieser Verwaltungsvorschrift (vgl. nur Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4.Aufl. 2020, Einleitung zu UVgO Rd.3) erfassten Informationen vorprozessual bereits mitgeteilt worden sind. Ein nach dieser Verwaltungsvorschrift des Bundes für Vergabevorgänge öffentlich-rechtlicher Körperschaften des Landes Nordrhein-Westfalen durch Erlass oder landesrechtliche gesetzliche Reglungen vermittelter Anspruch der Klägerin (vgl. dazu Ziekow/Völlink, aaO.), wäre insoweit durch Erfüllung erloschen (§ 362 Abs.1 BGB).
a) Gemäß § 46 Abs.1 Satz 3 UVgO unterrichtet der Auftraggeber die nicht berücksichtigten Bewerber und Bieter auf Verlangen über die wesentlichen Gründe für die Ablehnung ihres Angebots, die Merkmale und Vorteile des erfolgreichen Angebots sowie den Namen des erfolgreichen Bieters. Dem ist die Beklagte nachgekommen, indem sie der Klägerin mit den im Tatbestand zitierten Schreiben vom 00.04. und 00.04.2021 die entsprechenden Angaben unterbreitet hat.
Ausgehend von der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Köln zu einem Vergabeverfahren nach der VOB, Teil A, wonach es für § 19 Abs.2 VOB/A genügt, dem unterlegenen Bieter in Stichworten die Gründe seiner Nichtberücksichtigung mitzuteilen, etwa dass ein anderer Bieter ein wirtschaftlicheres Angebot abgegeben hat (so OLG Köln, Urteil vom 29.01.2020 - 11 U 14/19 = NZBau 2020, 684ff.), hat die Beklagte bereits mit der Mitteilung vom 00.04.2021 ihrer Informationspflicht genügt.
Die Frage, ob darüber hinaus für die Erfüllung anderweitiger Auskunftsansprüche weitergehende Angaben erforderlich sind, mithin die bloße Mitteilung, es handele sich nicht um das wirtschaftlichste Angebot, nicht genügt (vgl. etwa Dreher/Hoffmann in Burgi/Dreher, Beck´scher Vergaberechtskommentar, Band 1, 3.Aufl. 2017, § 134 GWB Rd.58 - 60 m.w.N.), bedarf hier keiner Vertiefung. Denn die Mitteilung vom 00.04.2021 zur Wertungsmatrix und zu der Bewertung des klägerischen Angebots in den einzelnen Kategorien genügt den Informationspflichten aus § 46 Abs.1 UVgO. Dieses Schreiben enthält Auskünfte zum Punktesystem der verwendeten Wertungsmatrix, deren Anwendung auf die Kategorien des Preises und die eingereichten Probearbeiten sowie die sich daraus ergebende Bewertungsentscheidung zu dem Angebot der Klägerin.
Dabei genügt es auch bei einem weiten bieterfreundlichen Verständnis von § 46 Abs.1 UVgO auf eine Anfrage nicht alle, sondern nur die tragenden Gründe der Ablehnung mitzuteilen (vgl. Heiermann/Zeiss/Summa/Hillmann, jurisPK-Vergaberecht, 5.Aufl., Stand: 30.10.2017, § 46 UVgO Rd.14). Dies folgt nicht zuletzt aus dem klaren Wortlaut von § 46 Abs.1 Satz 3 UVgO, der nur die Mitteilung der wesentlichen Gründe der Ablehnung verlangt, während beispielsweise § 134 Abs.1 GWB diese Einschränkung gerade nicht enthält.
b) Die Beklagte hat die Klägerin mit der Mitteilung vom 00.04.2021 zugleich über die Merkmale und die Vorteile des erfolgreichen Angebots im Sinne von § 46 Abs.1 Satz 2 UVgO in Kenntnis gesetzt, indem hiermit konkrete Auskünfte zur Bewertung des Angebotes der Bestbietenden, insbesondere in welchem Bereich dieses Angebot bevorzugt worden ist, erteilt worden sind.
Weitergehende Angaben zu den Merkmalen des erfolgreichen Angebotes musste die Beklagte gegenüber der Klägerin schon deshalb nicht machen, weil die Informationspflicht nach § 46 Abs.1 UVgO den Auftraggeber nicht von seiner Pflicht aus § 3 Abs.2 UVgO, die Integrität der Daten und die Vertraulichkeit der Teilnahmeanträge und Angebote einschließlich ihrer Anlagen zu gewährleisten, entbindet. Daraus folgt, dass zwar die Vorteile und Merkmale des erfolgreichen Angebots in dieser Mitteilung abstrakt beschrieben werden dürfen, preisliche oder technische Details indes nicht bekannt zu geben sind (Heiermann/Zeiss/Summa/Hillmann, aaO., § 46 UVgO Rd.16). Denn insoweit überwiegen die Interessen des erfolgreichen Bieters an der Wahrung der eigenen Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse (vgl. Heiermann/Zeiss/Summa/Hillmann, aaO.).
c) Ihrer Pflicht zur Unterrichtung über den Namen der erfolgreichen Bieterin ist die Beklagte gleichsam ordnungsgemäß nachgekommen.
Soweit die Klägerin mit Schriftsatz vom 00.09.2021 die Auffassung vertritt, aus dem Schreiben vom 00.04.2021 sei nicht ersichtlich, welche A GmbH gemeint gewesen sei, ist dieser Einwand jedenfalls zivilprozessual überholt. Denn spätestens in der Klageerwiderung hat die Beklagte mit der Benennung der
A1 GmbH als erfolgreiche Bieterin (Seite 3 ebenda), die den Zuschlag erhaltende Bieterin klar und unmissverständlich bezeichnet (vgl. zu diesen Erfordernissen Heiermann/Zeiss/Summa/Hillmann, aaO., Rd.17).
d) Einen weitergehenden Anspruch auf Einsicht in ein Submissions- oder Eröffnungsprotokoll - dessen Existenz im konkreten Fall zwischen den Parteien ohnehin streitig ist - vermittelt § 46 Abs.1 UVgO der Klägerin (vgl. oben unter 1.) nicht. Denn der Gesetzgeber hat sich im unterschwelligen Bereich gerade gegen ein gesetzlich normiertes Recht zur Akteneinsicht entschieden, mithin insoweit eine auch für die Rechtsprechung bindende (arg. Art.20 Abs.3 GG) abschließende gesetzliche Regelung getroffen (OLG Köln, Urteil vom 29.01.2020 - 11 U 14/19 = NZBau 2020, 684 Rd.50).
2. Aus § 165 GWB kann dem Klagebegehren schon deshalb nicht entsprochen werden, weil diese Norm aus dem 4. Teil des GWB gemäß § 106 Abs.1 Satz 1 GWB nur auf Vergabeverfahren Anwendung findet, die den Schwellenwert nach Art.4 der Richtlinie 2014/24/EU erreichen. Das streitgegenständliche Vergabeverfahren hingegen liegt unterhalb des Schwellenwertes von 207.000,00 Euro für öffentliche Liefer- und Dienstleistungsaufträge, die von subzentralen öffentlichen Auftraggebern vergeben werden (vgl. Art. 4 c) der Richtlinie 2014/24/EU). Hierauf ist § 165 GWB nicht anzuwenden (vgl. auch OLG Köln, aaO., NZBau 2020, 684 Rd.50).
3. Ein weitergehender Auskunftsanspruch der Klägerin folgt auch nicht aus § 4 Abs.1 des Informationsfreiheitsgesetzes Nordrhein-Westfalen (IFG NRW).
Zwar könnten derartige Ansprüche gemäß § 17 Abs.2 Satz 1 GVG auch in einem Zivilprozess berücksichtigt werden und sind nicht wegen vorrangiger spezieller Rechtsvorschriften nach § 4 Abs.2 IFG NRW ausgeschlossen. Denn § 46 Abs.1 Satz 2 UVgO ist in Nordrhein-Westfalen nicht durch Rechtsvorschriften im Sinne von § 4 Abs.2 IFG NRW in Kraft gesetzt worden. Der Anwendungsbefehl entstammt vielmehr Verwaltungsvorschriften zu § 55 Abs.2 der Landeshaushaltsordnung (LHO NRW), mit der Folge, dass § 4 Abs.1 IFG NRW im Unterschwellenbereich anwendbar ist (vgl. Stenzel in PdK-Nordrhein-Westfalen, NW A-16, Stand Januar 2021, IFG NRW § 8 Rd.4.1). Es fehlt infolge dieser untergesetzlichen Regelung damit an einer Rechtsvorschrift im Sinne von § 4 Abs.2 IFG NRW (vgl. auch Schwartmann in Gersdorf/Paal, BeckOK Informations- und Medienrecht, 33.Edit. 01.02.2021, IFG NRW § 4 Rd.14).
Allerdings ist die Gewährung einer über die hier von der Beklagten bereits erteilten Auskünfte hinausgehenden Einsicht in die Vergabeakte nach § 8 IFG NRW zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen ausgeschlossen. Denn die Klägerin würde in Form ihres Klagebegehrens zu Lasten ihrer Mitbieter Zugang zu der Bewertung und zu dem Inhalt fremder und mit ihr konkurrierender Angebote erhalten (vgl. auch Pabst in Gersdorf/Paal, aaO., § 8 IFG NRW Rd.3ff.). Da die Abwägung zwischen dem Informationsinteresse der Klägerin und den Geheimhaltungsinteressen anderer Teilnehmer des Vergabeverfahrens keine von den eingangs bereits unter 1.b) aufgezeigten Erwägungen abweichende Beurteilung rechtfertigt (vgl. Pabst in Gersdorf/Paal, aaO., § 8 IFG NRW Rd.15), kommt dem hier von der Beklagten gewählten vertraulichen Umgang mit den ihr vorliegenden Informationen der Vorrang zu.
4. Schließlich vermag die Klägerin ihr Klagebegehren auch nicht mit Erfolg auf § 242 BGB zu stützen.
a) Zwar begründet § 242 BGB dann einen eigenständigen Auskunftsanspruch, wenn die konkrete Rechtsbeziehung der Parteien es mit sich bringt, dass der Berechtigte in entschuldbarer Weise über das Bestehen oder den Umfang seiner Rechte im Ungewissen ist und der Verpflichtete ihm die zur Beseitigung dieser Ungewissheit erforderlichen Auskünfte unschwer geben kann (vgl. BGH, Urteil vom 08.02.2018 - III ZR 65/17 = NJW 2018, 2629 Rd.23; BGH, Urteil vom 09.11.2017 - III ZR 610/16 = BeckRS 2017, 132370, Rd.24; BGH, Urteil vom 14.06.2016 - II ZR 121/15 = NZG 2016, 983 Rd.11 und Rd.17). Ein derartiger Auskunftsanspruch setzt hingegen den begründeten Verdacht einer Vertragspflichtverletzung und die Wahrscheinlichkeit eines daraus resultierenden Schadens des Anspruchstellers voraus (BGH, Urteil vom 08.02.2018 - III ZR 65/17, aaO.; Palandt/Grüneberg, BGB, 80.Aufl. 2021, § 260 Rd.6 m.w.N. - auch zur Frage der Darlegungslast).
Diese Anspruchsvoraussetzungen sind hier weder ersichtlich noch von der Klägerin schlüssig dargelegt worden. Denn die Klägerin trägt keinerlei Anhaltspunkte für der Beklagten möglicherweise in dem Vergabeverfahren unterlaufene Fehler oder andere Umstände vor, aus denen sich zumindest dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch - etwa im Sinne von § 311 Abs.1 Ziffer 2. BGB - ergeben könnte. Vielmehr soll das Klagebegehren nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin mögliche Fehlerquellen erst noch ermitteln. Für eine derartige Ausforschung besteht indes über § 242 BGB keine Anspruchsgrundlage.
b) Nichts anderes ergibt sich aus der von der Klägerin in ihrer Klageschrift (dort Seite 5 bis Seite 7) zitierten Rechtsprechung. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamburg vom 30.03.2020 - 1 Verg 1/20 - (OLG Hamburg NZBau 2020, 683) betrifft einen Auskunftsanspruch aus dem hier nicht einschlägigen § 165 GWB (vgl. oben unter 2.). Die zitierte Entscheidung des Landgerichts Oldenburg behandelt den Fall einer freihändigen Vergabe eines ausgeschriebenen Auftrags nach Aufhebung der Ausschreibung an einen dritten und zuvor nicht beteiligten Mitbewerber, was aus Sicht des dortigen Gerichts in Verbindung mit weiteren Umständen auf das Fehlen einer fairen Chance hingedeutet habe (LG Oldenburg, Urteil vom 18.06.2014 - 5 S 610/13 = NZBau 2014, 720).
Demgegenüber betont auch das Oberlandesgericht Köln in dem Urteil vom 29.01.2020 - 11 U 14/19 -, dass für den mithilfe der begehrten Auskunft verfolgten Leistungsanspruch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit bestehen müsse (OLG Köln, aaO., NZBau 2020, 684 Rd.28). Nicht zu entsprechen sei dem Begehren aber, wenn der darlegungspflichtige Anspruchsteller die Kenntnis der den Ersatzanspruch begründenden Tatsachen erst durch die Einsichtnahme erwerben will (so OLG Köln, ebenda, Rd.52).
Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge des § 91 Abs.1 ZPO abzuweisen.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.
Streitwert: 8.000,00 Euro.
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OLG Düsseldorf
Beschluss
vom 21.04.2021
Verg 1/20
1. Vertragsklauseln werden von den Vergabenachprüfungsinstanzen grundsätzlich nicht auf ihre zivilrechtliche Wirksamkeit geprüft, da sie keine Bestimmungen über das Vergabeverfahren sind.
2. Außerhalb des Vergabeverfahrens und des Anwendungsbereichs vergaberechtlicher Vorschriften liegende Rechtsverstöße können ausnahmsweise nur dann zum Gegenstand eines Vergabenachprüfungsverfahrens gemacht werden, wenn es eine vergaberechtliche Anknüpfungsnorm gibt, die im Nachprüfungsverfahren entscheidungsrelevant ist.
3. Eine solche Anknüpfungsnorm ist das aus dem Rechtsgedanken von Treu und Glauben und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz herzuleitende Verbot der Unzumutbarkeit einer für den Bieter oder Auftragnehmer kaufmännisch vernünftigen Kalkulation.
4. Unzumutbar ist eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliegt, hinausgehen.
5. Ob eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation gemessen an diesen Maßstäben unzumutbar ist, bestimmt sich nach dem Ergebnis einer Abwägung aller Interessen der Bieter bzw. Auftragnehmer und des öffentlichen Auftraggebers im Einzelfall.
vorhergehend:
VK Bund, Beschluss vom 16.01.2020 - VK 1-93/19
Tenor:
1. Der Beschluss der 1. Vergabekammer des Bundes vom 16. Januar 2020 (VK 1-93/19) wird aufgehoben.
2. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, das Vergabeverfahren zum Fachlos 42 in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen und dieses bei fortbestehender Beschaffungsabsicht unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats fortzusetzen.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin hat die Antragsgegnerin zu tragen.
4. Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin im Verfahren vor der Vergabekammer war notwendig.
5. Die Antragsgegnerin wird gebeten, binnen zwei Wochen zum Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren vorzutragen.
Gründe
I.
Die Antragsgegnerin machte mit Bekanntmachung vom 24. Oktober 2019 die Ausschreibung einer Rahmenvereinbarung gemäß § 130a Abs. 8 SGB V im Zwei-Partner-Modell für mehrere Arzneimittelwirkstoffe und -wirkstoffkombinationen im offenen Verfahren europaweit mit einer Laufzeit von zwei Jahren bekannt (Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, Bekanntmachungsnr.: 2019/S 206-501476). Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens ist Los 42 mit dem Wirkstoff E. in der generischen Indikation zur Behandlung der akuten lymphatischen Leukämie (im Folgenden kurz: ALL).
Der Wirkstoff E., der selbst nicht patentgeschützt ist, wird zur Herstellung von Arzneimitteln zur Behandlung von ALL und der chronischen myeloischen Leukämie (im Folgenden CML) verwendet. In dieser Verwendung besteht ein Anwendungspatent, dessen Inhaberin die Antragstellerin ist, während im patentfreien Indikationsbereich ALL verschiedene Generika zugelassen sind. Die Antragstellerin vertreibt das für beide Indikationen zugelassene Medikament mit dem Wirkstoff E. unter dem Namen T.®.
Die Antragsgegnerin hat in den Vergabeunterlagen versichert, ihre Vertragsärzte zum Vertragsstart über den zulassungskonformen Einsatz des Wirkstoffs zu informieren (Ziff. II.2.14 der Bekanntmachung, Ziff. 7 der Leistungsbeschreibung). Sie hatte ein entsprechendes Schreiben nach Abstimmung mit der Antragstellerin bereits in einem vorangegangenen Open-house-Verfahren erstellt und versandt, dort über das zugunsten der Antragstellerin bestehende Anwendungspatent aufgeklärt sowie dazu aufgefordert, bei der Indikation CML auf der Verordnung die Ersetzung von T.® durch ein Generikum durch Setzen eines sogenannten Aut-idem-Kreuzes auszuschließen.
Nach der Rahmenvereinbarung sollen die Vertragspartner der Antragsgegnerin Rabatte auf die "vertragsgegenständlichen Arzneimittel" gewähren, die während der Vertragslaufzeit zulasten der Antragsgegnerin an deren Versicherte abgegeben werden (§ 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1). Vertragsgegenständliche Arzneimittel sind gemäß § 1 Abs. 2 der Rahmenvereinbarung
"die Arzneimittel mit den Pharmazentralnummern (PZN) des Auftragnehmers, die er auf den Preisblättern zur Ausschreibung angegeben hat und auf die der Zuschlag erteilt wurde."
Zur Ermittlung der zu zahlenden Rabattsumme wird der angebotene Rabattbetrag mit der Anzahl der im Abrechnungszeitraum abgegebenen Packungen des vertragsgegenständlichen Arzneimittels multipliziert (§ 3 Abs. 3 der Rahmenvereinbarung). Um die Abrechnung zu ermöglichen, übermittelt die Antragsgegnerin dem Rabattvertragspartner gemäß § 4 Abs. 5 der Rahmenvereinbarung
"eine nach PZN geordnete Liste der vertragsgegenständlichen Arzneimittel, die im Abrechnungszeitraum zu Lasten [der Antragsgegnerin] abgegeben worden sind".
Für den Fall von Unstimmigkeiten über die Höhe des zu zahlenden Rabatts sieht die Rahmenvereinbarung in § 4 Abs. 7 vor:
"Weichen die Abrechnungszahlen um mehr als 12 % von den Zahlen ab, die der Auftragnehmer aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Daten errechnet hat, und macht der Auftragnehmer daher berechtigte Zweifel an der jeweiligen Abrechnung geltend, werden die Vertragsparteien gemeinsam überprüfen, worauf diese Unterschiede beruhen, und eine einvernehmliche Einigung anstreben. Die Verpflichtung zur Rabattzahlung bleibt hiervon unberührt."
Die Antragsgegnerin stellte den Bietern zur Ermittlung des voraussichtlichen Auftragsvolumens in den Ausschreibungsunterlagen die Daten über die abgegebenen Mengen in der patentfreien Indikation im Zeitraum Mitte 2018 bis Mitte 2019 zur Verfügung.
Die Antragstellerin, die kein Angebot einreichte, rügte am 31. Oktober 2019 unter anderem, dass die Vertragsärzte in den Vergabeunterlagen nicht über die korrekte Verschreibung im patentgeschützten Indikationsbereich CML informiert würden und deshalb eine patentrechtswidrige Substitution drohe. Aus den Vergabeunterlagen gehe nicht hervor, dass vor Übermittlung der Rabattabrechnung an den Vertragspartner ein Abgleich zwischen den Diagnosen und der abgegebenen Menge an Rabattarzneimitteln erfolge, um den Patentschutz für den Indikationsbereich der CML auch im Rahmen der Abrechnung sicherzustellen.
Die Antragsgegnerin half, abgesehen von einer Formulierungsänderung in der Leistungsbeschreibung, der Rüge am 8. November 2019 nicht ab.
Die Antragstellerin hat am 22. November 2019 einen Nachprüfungsantrag gestellt und einen Verstoß gegen den Wettbewerbsgrundsatz (§ 97 Abs. 1 S. 1 GWB), gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 97 Abs. 2 GWB) und gegen den Grundsatz aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) gerügt. Sie hat geltend gemacht, dass sie gegenüber rein generischen Anbietern benachteiligt sei. Zwar sei vom Beschaffungsbedarf der Antragsgegnerin der Indikationsbereich der CML nicht umfasst. Da allerdings seitens der Antragsgegnerin kein Abgleich zwischen den Indikationen der versorgten Versicherten stattfinde, drohe eine "Überabrechnung" von Rabatten auch im CML-Bereich. Eine Auswertung der ärztlichen Verordnungen zugunsten der Versicherten der Antragsgegnerin belege, dass lediglich in ca. 43 % der Fälle T.® unter Setzung des Aut-idem-Kreuzes verordnet worden sei, obwohl in 86 % der Anwendungsfälle des Wirkstoffs eine CML-Indikation vorliege. Dies benachteilige die Antragstellerin als Inhaberin des Anwendungspatents doppelt. Die Antragsgegnerin verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, weil sie die "Überabrechnung" von Rabatten billigend in Kauf nehme.
Die Antragstellerin hat beantragt,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Ausschreibungsunterlagen so anzupassen, dass im Fachlos Nr. 42 mit dem Wirkstoff E. (generische Indikation) sichergestellt ist, dass vor der Rechnungslegung über die Rabatte an den Vertragspartner ein Abgleich zwischen den Indikationen und der abgegebenen Menge an Rabattarzneimitteln (nur ALL) und dementsprechend eine Rabattierung nur für ALL-Versorgungen erfolgt,
hilfsweise, die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Fachlos Nr. 42 aufzuheben.
Die Antragsgegnerin hat beantragt,
den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen.
Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag mit Beschluss vom 16. Januar 2020 (VK 1-93/19) zurückgewiesen. Die Antragstellerin sei nur insoweit antragsbefugt als sie vorträgt, die Risiken, die während der späteren Vertragsdurchführung für sie bestünden, hätten ihr eine Angebotskalkulation und damit eine Teilnahme am Vergabeverfahren unmöglich gemacht. Soweit die Antragstellerin geltend macht, die Antragsgegnerin müsse schon in den Vergabeunterlagen Vorkehrungen dagegen treffen, dass Rabatte im CML-Bereich anfallen, entstehe ihr kein Schaden im Sinne von § 160 Abs. 2 S. 2 GWB. Die Zuschlagschancen der Antragstellerin seien nicht tangiert. Die Antragstellerin schulde nach dem eindeutigen Vertragswortlaut nur Rabatte für die Abgabe von E. in der patentfreien Indikation. Das beanstandete Handeln der Antragsgegnerin betreffe auch kein Handeln oder Unterlassen während des Vergabeverfahrens, sondern die spätere Vertragsdurchführung. Soweit zulässig, sei der Nachprüfungsantrag unbegründet. Es liege keine vergaberechtswidrige Ungleichbehandlung der Antragstellerin gegenüber anderen Bietern vor und die Angebotskalkulation für die Antragstellerin sei zumutbar. Es bestehen auch keine vergaberechtlichen Bedenken gegen die Ausschreibung eines Wirkstoffs, bei dem für eine Indikation zusätzlich ein sogenanntes Anwendungspatent besteht.
Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer fristgerecht eingelegten sofortigen Beschwerde.
Sie beantragt,
die Entscheidung der 1. Vergabekammer des Bundes vom 16. Januar 2020 (VK 1-93/19) aufzuheben und Antragsgegnerin zu verpflichten, die Ausschreibungsunterlagen so anzupassen, dass im Fachlos Nr. 42 mit dem Wirkstoff E. (generische Indikation) sichergestellt ist, dass vor der Rechnungslegung über die Rabatte an den Vertragspartner ein Abgleich zwischen den Indikationen und der abgegebenen Menge an Rabattarzneimitteln (nur ALL) und dementsprechend eine Rabattierung nur für ALL-Versorgungen erfolgt,
hilfsweise, die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Fachlos Nr. 42 aufzuheben und festzustellen, dass die Antragsgegnerin gegen zwingende Vorschriften des Vergaberechts verstoßen hat und die Antragstellerin hierdurch in ihren Rechten verletzt ist.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die sofortige Beschwerde der Antragstellerin zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung der Vergabekammer.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet. Ihr Nachprüfungsantrag ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Das Verfahren war in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen und der Antragsgegnerin war aufzugeben, ihre Vergabeunterlagen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats anzupassen.
1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig. Die Antragstellerin ist insbesondere antragsbefugt im Sinne von § 160 Abs. 2 GWB.
a. Sie hat ein Interesse am Auftrag, obwohl sie kein Angebot abgegeben hat.
Das für die Antragsbefugnis erforderliche Interesse am Auftrag wird in der Regel durch die Angebotsabgabe dokumentiert. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn angebotshindernde Vergaberechtsverstöße geltend gemacht werden. In diesem Fall wird das Interesse am Auftrag durch die Erhebung von Rügen und die Einleitung des Nachprüfungsverfahrens belegt (Senatsbeschlüsse vom 30. September 2020 - Verg 16/20, und vom 16. Oktober 2019 - Verg 66/18 -; OLG München, Vergaberecht 2007, 799). So verhält es sich hier, denn die Antragstellerin trägt vor, sie sei insbesondere aufgrund der unbestimmten Leistungsbeschreibung ("lückenhaften Abrechnungsregeln") und der unzumutbaren Kalkulationsrisiken an einer Angebotsabgabe gehindert gewesen.
b. Die Antragstellerin hat eine Verletzung in ihren Rechten geltend gemacht (§ 97 Abs. 6 GWB).
Eine Rechtsverletzung ist geltend gemacht, wenn nach der Sachdarstellung des Antragstellers der Auftraggeber im Vergabeverfahren gegen vergaberechtliche Vorschriften verstoßen hat und eine Verletzung seiner Rechte möglich erscheint. Aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes kann die Antragsbefugnis danach nur dann fehlen, wenn eine Rechtsbeeinträchtigung offensichtlich nicht gegeben ist. Stets ist aber erforderlich, dass sich der Antragsteller auf eine Verletzung bieterschützender Vergabevorschriften berufen kann (Senatsbeschluss vom 10. Februar 2021 - Verg 23/20).
Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Antragstellerin beruft sich auch insoweit auf eine vergaberechtliche Anknüpfungsnorm, als sie behauptet, die Antragsgegnerin habe es unterlassen, in den Vergabeunterlagen durch einen "indikationsgerechten" Abrechnungsmodus sicherzustellen, dass sie, die Antragstellerin, vor finanziellen Nachteilen einer Falschberechnung bewahrt wird. Insoweit beanstandet sie die Klausel (unter anderem) unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit einer für den Bieter kaufmännisch vernünftigen Kalkulation und macht eine Verletzung des aus dem bieterschützenden Grundsatz des § 242 BGB abzuleitenden normativen Prinzips geltend, wonach Vertragspartner auch schon bei Vertragsanbahnung zu gegenseitiger Rücksichtnahme verpflichtet sind (Senatsbeschluss vom 11. Mai 2016 - Verg 2/16 -; OLG Dresden, Beschluss vom 26. Juli 2013 - Verg 5/13). Die Problematik der indikationsgerechten Abrechnung betrifft nicht allein die Vertragsdurchführung außerhalb des Vergabeverfahrens. Nach dem für die Prüfung der Antragsbefugnis allein maßgeblichen Vortrag der Antragstellerin hat die Antragsgegnerin vielmehr durch die Gestaltung der Vergabeunterlagen nicht alles ihr Mögliche und Zumutbare getan, um die verfassungsrechtlich geschützten Rechte als Patentinhaberin zu wahren und den korrekt begrenzten Beschaffungsbedarf auf der Ebene der Rabattabrechnung selbst zu vollziehen. Damit hat sie die Antragstellerin allein zur Verringerung ihres eigenen Verwaltungsaufwands auf die Geltendmachung gerichtlicher Rückerstattungsansprüche verwiesen, ihr damit eine Angebotskalkulation unzumutbar gemacht und eine Schädigung ihrer Vermögensinteressen billigend in Kauf genommen.
c. Die Antragstellerin hat dargelegt, dass ihr durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht (§ 160 Abs. 2 S. 2 GWB).
Hierfür ist die Darlegung erforderlich, dass durch den beanstandeten Vergaberechtsverstoß die Aussichten des Antragstellers auf den Zuschlag zumindest verschlechtert sein können. Hierfür genügt, wenn ein Schadenseintritt durch die geltend gemachte Rechtsverletzung ursächlich und nicht offensichtlich ausgeschlossen ist (BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2004, 2 BvR 2248/03 -; BGH, Beschluss vom 10. November 2009, X ZB 8/09). Aus jenseits einer solchen Zuschlagschance liegenden Beeinträchtigungen rechtlicher oder wirtschaftlicher Art kann die Antragsbefugnis jedoch nicht hergeleitet werden (Senatsbeschluss vom 27. Juni 2018 - Verg 59/17 -).
Um solche Beeinträchtigungen geht es der Antragstellerin jedoch nicht. Nach ihrem Vortrag droht ihr eine Beeinträchtigung der Zuschlagschancen durch sie benachteiligende Ausschreibungsbedingungen, weil ein indikationsgerechter Abrechnungsmodus fehlt. Anders als die Vergabekammer meint (S. 13 der Entscheidung), ist ein drohender Schaden insoweit nicht von vornherein ausgeschlossen.
2. Der Nachprüfungsantrag ist begründet.
Der Antragstellerin war nach den Vergabeunterlagen eine kaufmännisch ernünftige Kalkulation unzumutbar. Der in §§ 1, 3 und 4 der Rahmenvereinbarung festgelegte Rabattabrechnungsmodus ist vergaberechtswidrig, weil mit seiner Anwendung in nicht mehr zumutbarer Weise in Kauf genommen wird, dass bei der Berechnung der von der Antragstellerin im Falle der Bezuschlagung ihres Angebots zu zahlenden Rabatte für die Abgabe des von ihr vertriebenen Medikaments T.® nicht nur Rabatte für den ausgeschriebenen Indikationsbereich, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit und in einem nennenswerten Umfang auch im nicht ausgeschriebenen und vom Anwendungspatent der Antragstellerin erfassten CML-Indikationsbereich erhoben werden. Die von der Antragsgegnerin getroffenen Vorkehrungen sind unzureichend. Sie hat nicht das ihr Mögliche und Zumutbare getan, um eine korrekte Berechnung der zu zahlenden Rabatte sicherzustellen.
a. Vertragsklauseln wie die vorgenannten Regelungen in den ausgeschriebenen Rabattvereinbarungen werden von den Vergabenachprüfungsinstanzen grundsätzlich nicht auf ihre zivilrechtliche Wirksamkeit geprüft, da sie keine Bestimmungen über das Vergabeverfahren im Sinne des § 97 Abs. 6 GWB sind. Außerhalb des Vergabeverfahrens und des Anwendungsbereichs vergaberechtlicher Vorschriften liegende Rechtsverstöße können ausnahmsweise nur dann zum Gegenstand eines Vergabenachprüfungsverfahrens gemacht werden, wenn es eine vergaberechtliche Anknüpfungsnorm gibt, die im Nachprüfungsverfahren entscheidungsrelevant ist (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 6. September 2017 - Verg 9/17 -; vom 19. Oktober 2015 - Verg 30/13 -, und vom 13. August 2008 - Verg 42/07 -).
Eine solche Anknüpfungsnorm ist hier das aus dem Rechtsgedanken von Treu und Glauben und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 97 Abs. 1 S. 2 GWB) herzuleitende Verbot der Unzumutbarkeit einer für den Bieter oder Auftragnehmer kaufmännisch vernünftigen Kalkulation (Senatsbeschlüsse vom 21. Dezember 2020 - Verg 36/20; vom 6. September 2017 - Verg 9/17 -; vom 10. April 2013 - Verg 50/12, und vom 18. April 2012 - Verg 93/11, wobei Herleitung offenlassend; ebenso OLG München, VergabeR 2013, 78, 82; OLG Koblenz, VergabeR 2013, 229, 232; OLG Schleswig, VergabeR 2013, 395 Rn. 57; zum Ganzen Dicks, NZBau 2014, 731 ff.; zustimmend Conrad, ZfBR 2015, 455; Krohn in Gabriel/Krohn/Neun, Handbuch des Vergaberechts, 2. Auflage 2017, Rn. 44; Schneevogl in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Auflage, (Stand: 21.08.2018) § 97 GWB Rn. 63; Zimmermann in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Auflage (Stand: 01.10.2016), § 121 GWB Rn. 56). Unzumutbar ist eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliegt, hinausgehen (Senatsbeschluss vom 7. September 2003 - Verg 26/03 m.w.N.). In diesem Fall verletzt der öffentliche Auftraggeber die ihm nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB), der auch im Vergaberecht, insbesondere auch im Verhältnis der gesetzlichen Krankenkassen zu den Leistungserbringern (§ 69 Abs. 1 S. 3 SGB V; BSG, Urteil vom 28. November 2013, B 3 KR 24/12 R -) und bereits im Stadium der Vertragsanbahnung Anwendung findet, obliegenden Pflichten. Ob eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation gemessen an diesen Maßstäben unzumutbar ist, bestimmt sich nach dem Ergebnis einer Abwägung aller Interessen der Bieter bzw. Auftragnehmer und des öffentlichen Auftraggebers im Einzelfall (Senatsbeschluss vom 21. Dezember 2020 - Verg 36/20).
b. Ausgehend von den genannten Grundsätzen führt eine Abwägung der beteiligten Interessen zu dem Ergebnis, dass der Antragstellerin eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation der anzubietenden Rabatte nicht zumutbar ist. Das vertraglich vorgesehene Rabatt-Abrechnungssystem belastet die Antragstellerin als potentielle Bieterin und Inhaberin des Anwendungspatents im Vergleich zu den übrigen Bietern mit Kalkulationsrisiken, die über das typischerweise einem Bieter obliegende Maß hinausgehen, während es der Antragsgegnerin möglich und zumutbar ist, eine indikationsgenaue Abrechnung sicherzustellen.
aa. Im Falle der Zuschlagserteilung müsste die Antragstellerin in erheblichem Umfang Rabatte auch bei der Abgabe von T.® im patentgeschützten Bereich gewähren, obwohl sie solche Rabatte nicht schuldet. Dabei träfe sie als Inhaberin des Anwendungspatents allein das kalkulatorisch zu berücksichtigende Risiko, die von der Antragsgegnerin zu Unrecht vereinnahmten Rabatte ggf. gerichtlich zurückzufordern. Ihr ist es nicht zumutbar, dieses Risiko in den anzubietenden Rabatt einzupreisen.
(1) Aus der Rahmenvereinbarung ergibt sich zweifelsfrei, dass Rabatte nur für die Abgabe von Arzneimitteln im generischen Bereich geschuldet sind.
Vertragsinhalt im streitgegenständlichen Los 42 ist der Wirkstoff E. ausschließlich in der generischen Indikation zur Behandlung von ALL. Das ergibt sich bereits aus der Bekanntmachung (Ziff. II.1.1 "Generikaausschreibung") sowie aus Ziff. 2 und Ziff. 7 Abs. 5 der Leistungsbeschreibung ("E. generische Indikation"). Dementsprechend werden nach §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 5 der Rahmenvereinbarung die zu zahlenden Rabatte auf der Grundlage des Abgabepreises der zulasten der Antragsgegnerin abgegebenen vertragsgegenständlichen - generischen - Arzneimittel ermittelt (§ 3 Abs. 1 und 2 Rabattvertrag). Da es sich bei dem von der Antragstellerin angebotenen Medikament im Bereich der CML-Indikation nicht um ein "vertragsgegenständliches" generisches Arzneimittel handelt, dürfen bei Abgaben von T.® in diesem Anwendungsbereich keine Rabatte berechnet werden.
(2) Der in dem abzuschließenden Rahmenvertrag vorgesehene Abrechnungsmodus führt jedoch dazu, dass die Antragstellerin im Fall der Zuschlagserteilung auch für die an sich rabattfreie Abgaben von T.® bei CML-Indikationen in erheblichem Umfang Rabatte an die Antragsgegnerin zu zahlen hat und sie allein das Risiko der Rückforderung trägt.
Die Rabattforderungen werden aufgrund der von den Apotheken gemeldeten Arzneimittel, bezeichnet nach deren PZN, und deren Abgabemengen berechnet (§§ 1 Abs. 2, 4 Abs. 5 Rabattvertrag). Die Antragsgegnerin gleicht die Meldung mit den Verordnungsblättern der Ärzte ab und legt ihrer Rabattforderung nur solche Arzneimittelabgaben zugrunde, bei denen auf den Verordnungen kein Aut-idem-Kreuz gesetzt wurde. Allerdings setzen die Vertragsärzte bei der Verordnung von T.® in einer Vielzahl von Fällen das Aut-idem Kreuz nicht, obwohl eine patentgeschützte CML-Indikation vorliegt und die Ersetzung durch ein Generikum nicht gestattet ist. Hiervon ist der Senat aufgrund einer Auswertung der ärztlichen Verordnungen in einer vorangegangenen Ausschreibung im Jahr 2019 durch die J. überzeugt. Zwischen den Verfahrensbeteiligten steht außer Streit, dass in etwa 86 % aller Fälle das Medikament T.® zur Behandlung von CML eingesetzt wird. Die genannte Auswertung führte jedoch zu dem Ergebnis, dass eine Ersetzung durch ein Generikum lediglich in 43,2 % der Fälle ausgeschlossen worden ist. Die von der Antragstellerin vorgelegten Daten sind belastbar und lassen Rückschlüsse auf das Verordnungsverhalten der Ärzte auch in dieser Ausschreibung zu. Bei der J. handelt es sich um ein renommiertes, unabhängiges Marktforschungsinstitut, das für Apotheken, Ärztevereinigungen und pharmazeutische Unternehmen ebenso wie für gesetzliche Krankenkassen, wissenschaftliche und politische Institutionen Gesundheitsdaten verarbeitet und unter anderem zum Zweck der Marktforschung, der Bewertung von Versorgung und Therapie sowie für Market Access- und Development-Entscheidungen auswertet. In der von der J.in der O.-Datenbank verarbeiteten Informationen werden über 99 % aller ambulanten über Apothekenrechenzentren erfassten GKV-Rezepte erfasst. Dass die stationären Verordnungen hierin nicht abgebildet sind, beeinträchtigt die Aussagekraft der Datenbank nicht. Die Antragsgegnerin, die über die entsprechenden Daten sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich verfügt, hat den substantiierten Vortrag der Antragstellerin lediglich pauschal bestritten, ohne ihren eigenen Vortrag mit den ihr vorliegenden Zahlen zu unterlegen.
Ob sich das Verordnungsverhalten der Vertragsärzte insbesondere durch die von der Antragsgegnerin in Aussicht gestellte regelmäßige Versendung von nach der Rechtsprechung des Senats zur Unterbindung patentverletzender Substitutionen geforderten (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Mai 2016 - Verg 2/16) Informationsschreiben (Ss. v. 19. Januar 2021, S. 2, Bl. 268 d.GA.) in nennenswertem Umfang ändern wird, ist ungewiss. Belastbare Anhaltspunkte hierfür hat die Antragsgegnerin nicht vorgetragen. Der Hinweis auf die Wirksamkeit vergleichbarer Informationsmaßnahmen (Anlage BG 6) bei der Verschreibung von J. 1. geht fehl, weil nach den Angaben der Antragsgegnerin der Anteil der Aut-idem-Verordnungen seit April 2019 mit 36,14 % auf ein Niveau gestiegen sein soll, das den Anteil der Abgaben im patentgeschützten Indikationsbereich (30 %) noch übersteigt (Anlage BG 5, S. 2). Ein solches Szenario ist nicht plausibel.
Nach den vertraglichen Regelungen wäre die Antragstellerin mit dem vollständigen Risiko der Rückforderung der zu viel gezahlten Rabatte belastet. Der Auftragnehmer ist nach den derzeitigen Ausschreibungsbedingungen im Falle von Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung der geforderten Rabatte auf den gesetzlichen Auskunftsanspruch angewiesen. Das in § 4 Abs. 7 S. 1 der Rahmenvereinbarung geregelte Verfahren der einvernehmlichen Prüfung vermittelt keinen Anspruch auf Offenlegung der verschlüsselten ärztlichen Abrechnungsunterlagen, einschließlich der Indikationen, und damit keine wirksame Überprüfungsmöglichkeit der Forderung durch den Auftragnehmer. Es fordert vom Auftragnehmer eigene Erkenntnisse über die Abgabemengen, wohingegen allein die Antragsgegnerin Zugriff auf die zur indikationsgerechten Abrechnung notwendigen Diagnosedaten hat, und greift erst bei einem Abweichen von mehr als 12 %. Es lässt im Übrigen die Pflicht zur Zahlung auch einer unberechtigten Rabattforderung unberührt (§ 4 Abs. 7 S. 2 Rahmenvereinbarung).
(3) Die aufgezeigten Kalkulationsrisiken der Antragstellerin werden auch nicht anderweitig kompensiert. Der Vortrag der Antragsgegnerin, die durch die unberechtigten Rabattforderungen bedingten Umsatzeinbußen würden aufgrund einer faktischen Verdrängung von Arzneimittelimporteuren vom CML-Markt kompensiert, geht schon im Ansatz fehl, weil die Forderung vertraglich nicht geschuldeter Leistungen nicht mit anderen wirtschaftlichen Vorteilen aus dem Vertragsschluss zu rechtfertigen ist.
Schließlich ist der Antragstellerin die Möglichkeit, unberechtigten Rabattforderungen durch Vertriebsmaßnahmen, etwa den Verkauf des generischen Produkts mit einer gesonderten Verpackung, zu begegnen, nach ihrem unwidersprochenen Vortrag aus regulatorischen Gründen verwehrt. Ob der Antragstellerin eine solche Maßnahme aus Zeit- und Kostengründen überhaupt zumutbar wäre, bedarf deshalb keiner Entscheidung.
bb. Das Interesse der Antragsgegnerin, an ihrem gewählten Abrechnungsmodus festzuhalten und hierdurch unberechtigte Rabatte zumindest vorübergehend zu vereinnahmen, tritt hinter dem Interesse der Antragstellerin an einer indikationsgenauen Abrechnung und infolgedessen einem kalkulierbarem Rückforderungsrisiko bei etwaigen Fehlberechnungen zurück. Der Antragsgegnerin ist möglich und zumutbar, dem Interesse der Antragstellerin an einen indikationsgerechten Abrechnungsmechanismus Rechnung zu tragen.
(1) Einer indikationsgerechten Rabattabrechnung stehen, anders als die Antragsgegnerin meint, keine datenschutzrechtlichen Einwendungen entgegen.
Nach § 284 Abs. 3 S. 1 SGB V dürfen die Krankenkassen rechtmäßig erhobene und gespeicherte versichertenbezogene Daten für die Zwecke der Aufgaben nach § 284 Abs. 1 SGB V in dem jeweils erforderlichen Umfang verarbeiten. Die Erhebung und Speicherung von Sozialdaten ist nach § 284 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 SGB V zur Abrechnung mit den Leistungsträgern, einschließlich der Prüfung der Rechtmäßigkeit und Plausibilität der Abrechnung zulässig. Pharmazeutische Unternehmen zählen zu den "sonstigen Leistungserbringern" im Sinne von § 69 Abs. 1 S. 1 SGB V. Darauf weist schon die Erwähnung der pharmazeutischen Unternehmer in der Überschrift zum Siebten Abschnitt des Vierten Kapitels des SGB V hin, die die Beziehungen der Krankenkassen(verbände) zu Apotheken und pharmazeutischen Unternehmern betrifft. Das Vierte Kapitel des SGB V geht von einem weiten Leistungserbringerbegriff aus, der sich nicht nur auf diejenigen Leistungserbringer beschränkt, die im Wege des Sachleistungsprinzips für die Krankenkassen Leistungen unmittelbar gegenüber den Versicherten erbringen. Auch solche Leistungserbringer, die nicht in direktem Kontakt mit den Versicherten stehen, wie die pharmazeutischen Unternehmer, sind Leistungserbringer. Die pharmazeutischen Unternehmer werden über die Leistungs- und Vergütungsmodalitäten der Arzneimittelversorgung in den §§ 130a ff. SGB V, die sich im Wesentlichen an sie richten, in das Leistungserbringungsrecht des SGB V miteinbezogen (BSG, Beschluss vom 22. April 2008, B 1 SF 1/08 R -; Engelmann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Auflage, Stand: 11.12.2020, § 69 SGB V Rn. 13; Schütz in Orlowski/Remmert, GKV-Kommentar, SGB V, 57. AL 12/2020, § 69 Rn. 12).
Keiner Entscheidung bedarf, ob dem Rückgriff auf ärztliche Diagnosedaten bei der Abrechnung der Rabattforderungen gegenüber den pharmazeutischen Unternehmen entgegensteht, dass die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen gemäß § 295 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V nur Diagnosen zur Überprüfung der eigenen Abrechnung zu übermitteln verpflichtet sind. Auf der Grundlage des Vortrags der Antragsgegnerin ist jedenfalls nicht feststellbar, dass die Antragsgegnerin bei der Berechnung ihrer Rabattforderung auf Sozialdaten bzw. personenbezogene Daten zurückgreifen muss, deren Verarbeitung datenschutzrechtlichen Beschränkungen unterliegt. Sozialdaten sind gemäß § 67 Abs. 1 S. 2 SGB X alle Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person, die von einer in § 35 SGB I genannten Stelle im Hinblick auf ihre Angaben nach dem SGB erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. Keine Einzelangaben und damit Sozialdaten im Sinne von § 284 SGB V sind indes anonymisierte Angaben sowie Sammelangaben über Personengruppen, die einen Bezug zu einer bestimmten Person nicht oder nicht mehr erkennen lassen (Bieresborn in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 67 Rn. 9; Schneider in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 107. EL Juli 2020, § 284 SGB V Rn. 8). Dasselbe folgt aus dem Umkehrschluss aus Art. 2 Abs. 1 DSGVO für die Grundsätze des Datenschutzrechts der DSGVO. Für anonyme Informationen, die sich nicht auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen, oder personenbezogene Daten, die nachträglich in einer Weise anonymisiert worden sind, dass die betroffene Person nicht oder nicht mehr identifiziert werden kann, gilt die DSGVO nicht (Klar/Kühling in Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 3. Auflage 2020, Art. 4 DS-GVO Rn. 31). Die Antragsgegnerin hat weder erläutert noch ist sonst ersichtlich, aus welchen Gründen ihr die Rabattberechnung nicht aufgrund anonymisierter Diagnosedaten möglich sein soll.
Im Übrigen ist die Berufung der Antragsgegnerin auf datenschutzrechtliche Hindernisse widersprüchlich und vorgeschoben, weil sie die Antragstellerin gleichzeitig wegen der Rückforderung nicht geschuldeter Rabatte auf zivilrechtliche Rückerstattungsansprüche verweist (Ss. v. 16. September 2020, S. 10, Bl. 211 d.GA.), ohne zu erläutern, aus welchen Gründen dem zivilrechtlichen Auskunftsbegehren Datenschutzrecht nicht entgegensteht.
(2) Die Implementierung eines indikationsgerechten Abrechnungsmodus stellt an die Antragsgegnerin keine unzumutbaren Anforderungen. Während die Antragstellerin keinen Zugang zu den ärztlichen Diagnosedaten hat, was die Durchsetzung von Rückforderungsansprüchen erheblich erschwert, ist es gesetzlichen Krankenkassen unschwer möglich, über die PZN und die verschlüsselten Abrechnungsunterlagen der Vertragsärzte festzustellen, ob T.® im rabattpflichtigen oder rabattfreien Anwendungsgebiet eingesetzt wurde (vgl. Gaßner, PharmR 2020, 105, 113).
(a) Die von der Antragsgegnerin geltend gemachte zeitliche Verzögerung bei der Abrechnung der Rabattforderung im Falle eines Datenabgleichs mit den Diagnosedaten der Vertragsärzte führt nicht zur Unzumutbarkeit eines indikationsgerechten Abrechnungsmodus. Die Antragsgegnerin trägt insoweit vor, dass ein Abgleich der Apothekendaten mit den ärztlichen Diagnosen in der Regel erst ab dem siebten Monat nach Quartalsende erfolgen und die sich daraus ergebende Verzögerung der Rabattabrechnung erhebliche nachteilige Auswirkungen auf ihre Liquidität haben könne. Dies überzeugt schon deshalb nicht, weil die Antragsgegnerin nach § 4 Abs. 2 der Rahmenvereinbarung die Möglichkeit hat, in jedem Abrechnungsquartal einen Abschlag für das Folgequartal zu fordern und auf diese Weise etwaigen Liquiditätsengpässen entgegenzuwirken.
(b) Vereinzelte Diagnose-, Verschlüsselungs- oder Übertragungsfehler vermögen die Eignung eines solchen Abrechnungsverfahrens, bei dem es sich um ein sogenanntes Massengeschäft handelt, nicht grundsätzlich in Frage zu stellen.
(c) Soweit die Antragsgegnerin geltend macht, dass eine Bereinigung der Rabattforderungen durch Diagnosedaten zu einem erheblichen zusätzlichen personellen und technischen Aufwand führe, hat sie ihren pauschalen Vortrag auch nach Hinweis des Senats nicht näher durch konkreten Sachvortrag spezifiziert. Gegen die von der Antragsgegnerin behauptete Unzumutbarkeit einer indikationsgerechten Abrechnung spricht nicht zuletzt, dass zahlreiche andere gesetzliche Krankenkassen in der Lage sind, eine indikationsgerechte Abrechnung des Wirkstoffs E. sicherzustellen. Die Antragstellerin hat vorgetragen, dass dies von der L. und 38 anderen gesetzlichen Krankenkassen praktiziert werde. So habe im Rahmen der Open-House-Ausschreibung der H. im Jahr 2019 diese als Dienstleisterin für 38 gesetzliche Krankenkassen, darunter bundesweit agierende Kassen, eine indikationsgerechte Abrechnung vorgenommen. Dem ist die Antragsgegnerin nur insoweit entgegengetreten, als sie die von der L. abgegebene "Bestätigung" in einem parallelen Open-House-Verfahren, eine indikationsgerechte Rabattabrechnung vorzunehmen, für rechtlich unverbindlich hält (Ss. v. 19. Januar 2021, S. 8, Bl. 274 d.GA.). Allerdings spricht nichts dafür und wird von der Antragsgegnerin auch nicht behauptet, dass die von der L. erteilte Auskunft unzutreffend war. Dass die Antragsgegnerin einen wesentlich höheren Anteil an Verordnungen mit dem Wirkstoff hat, als die L. und die von der H. vertretenen Kassen, steht der Zumutbarkeit einer indikationsgerechten Abrechnung ebenfalls nicht entgegen. Es entspricht vielmehr der betriebswirtschaftlichen Erfahrung, dass bei größeren Abrechnungsmengen Bearbeitungsprozesse mit vergleichsweise geringeren Kosten umgestellt werden können. Im Übrigen belegt die von der Antragsgegnerin vorgelegte Anlage BG 7, dass die dort (allerdings unvollständig) aufgeführten von der H. vertretenen Kassen nahezu dieselbe Menge an Verordnungen mit dem Wirkstoff E. bearbeiten wie die Antragsgegnerin und gleichwohl zu einer indikationsgerechten Abrechnung in der Lage sind. Schließlich kann entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin die Unzumutbarkeit einer indikationsgerechten Abrechnung nicht damit begründet werden, dass eine solche Handhabe aus Gründen der Gleichbehandlung bei sämtlichen von einem Anwendungspatent geschützten Arzneimitteln durchzuführen sei und dies zu einem erheblichen finanziellen Mehraufwand führe. Das Erfordernis, den Abrechnungsmodus anzupassen, hängt von der Zumutbarkeit einer kaufmännisch vernünftigen Kalkulation, insbesondere dem Verordnungsverhalten der Vertragsärzte im Einzelfall ab.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 175 Abs. 2 i.V.m. § 71 GWB sowie auf § 182 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 1 GWB.
Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin im Verfahren vor der Vergabekammer war im Sinne von § 182 Abs. 4 Satz 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 1, 2 und 3 S. 2 VwVfG notwendig, weil die sich im Nachprüfungsverfahren stellenden Fragen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht komplex sind.
Die noch zu treffende Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Beschwerdeverfahren bleibt einem gesonderten Beschluss nach Abschluss der Anhörung der Verfahrensbeteiligten vorbehalten.
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1 | Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 63 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65) in Verbindung mit den Grundsätzen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 49 und 56 AEUV. |
2 | Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Caruter Srl auf der einen Seite und der S.R.R. Messina Provincia SCpA (im Folgenden: SRR), der Comune di Basicò (Gemeinde Basicò, Italien), der Comune di Falcone (Gemeinde Falcone, Italien), der Comune di Fondachelli Fantina (Gemeinde Fondachelli Fantina, Italien), der Comune di Gioiosa Marea (Gemeinde Gioiosa Marea, Italien), der Comune di Librizzi (Gemeinde Librizzi, Italien), der Comune di Mazzarrà Sant'Andrea (Gemeinde Mazzarrà Sant'Andrea, Italien), der Comune di Montagnareale (Gemeinde Montagnareale, Italien), der Comune di Oliveri (Gemeinde Oliveri, Italien), der Comune di Piraino (Gemeinde Piraino, Italien), der Comune di San Piero Patti (Gemeinde San Piero Patti, Italien), der Comune di Sant'Angelo di Brolo (Gemeinde Sant'Angelo di Brolo, Italien), der Regione Siciliana - Urega - Ufficio regionale espletamento gare d'appalti lavori pubblici Messina (Region Sizilien - Urega - Regionalbüro Messina für Ausschreibungen im Bereich öffentlicher Bauaufträge, Italien) und der Regione Siciliana - Assessorato regionale delle infrastrutture e della mobilità (Region Sizilien - Regionaldirektion für Infrastruktur und Mobilität, Italien) auf der anderen Seite wegen der Vergabe eines öffentlichen Auftrags über die Dienstleistung des Aufkehrens, der Sammlung und des Abtransports getrennter und ungetrennter fester Siedlungsabfälle sowie über andere Dienstleistungen der öffentlichen Hygiene in 33 Gemeinden, die in der SRR zusammengeschlossen sind. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht |
3 | In den Erwägungsgründen 1 und 2 der Richtlinie 2014/24 heißt es: "(1) Die Vergabe öffentlicher Aufträge durch oder im Namen von Behörden der Mitgliedstaaten hat im Einklang mit den im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) niedergelegten Grundsätzen zu erfolgen, insbesondere den Grundsätzen des freien Warenverkehrs, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit sowie den sich daraus ableitenden Grundsätzen wie Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung, gegenseitige Anerkennung, Verhältnismäßigkeit und Transparenz. Für über einen bestimmten Wert hinausgehende öffentliche Aufträge sollten Vorschriften zur Koordinierung der nationalen Vergabeverfahren festgelegt werden, um zu gewährleisten, dass diese Grundsätze praktische Geltung erlangen und dass das öffentliche Auftragswesen für den Wettbewerb geöffnet wird. (2) ... die Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe ... [müssen] überarbeitet und modernisiert werden, damit die Effizienz der öffentlichen Ausgaben gesteigert [und] die Teilnahme insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) an öffentlichen Vergabeverfahren erleichtert [wird]. Ferner ist es notwendig, grundlegende Begriffe und Konzepte zu klären, um Rechtssicherheit zu gewährleisten und bestimmten Aspekten der einschlägigen ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Rechnung zu tragen." |
4 | Art. 2 ("Begriffsbestimmungen") Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 bestimmt: "Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck ... 10. 'Wirtschaftsteilnehmer' eine natürliche oder juristische Person oder öffentliche Einrichtung oder eine Gruppe solcher Personen und/oder Einrichtungen, einschließlich jedes vorübergehenden Zusammenschlusses von Unternehmen, die beziehungsweise der auf dem Markt die Ausführung von Bauleistungen, die Errichtung von Bauwerken, die Lieferung von Waren beziehungsweise die Erbringung von Dienstleistungen anbietet; ..." |
5 | Art. 19 ("Wirtschaftsteilnehmer") Abs. 2 der Richtlinie 2014/24 sieht vor: "Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern, einschließlich vorübergehender Zusammenschlüsse, können an Vergabeverfahren teilnehmen. Die öffentlichen Auftraggeber dürfen nicht von ihnen verlangen, dass sie eine bestimmte Rechtsform haben, um ein Angebot oder einen Antrag auf Teilnahme einzureichen. Falls erforderlich, können die öffentlichen Auftraggeber in den Auftragsunterlagen präzisieren, wie Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern die Anforderungen in Bezug auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit oder die technische und berufliche Eignung nach Artikel 58 zu erfüllen haben, sofern dies durch objektive Gründe gerechtfertigt und angemessen ist. Die Mitgliedstaaten können Standardbedingungen dafür festlegen, in welcher Form Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern die Anforderungen zu erfüllen haben. Sämtliche Bedingungen in Bezug auf die Durchführung eines Auftrags durch diese Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern, die von den für einzelne Teilnehmer geltenden Bedingungen abweichen, müssen durch objektive Gründe gerechtfertigt und verhältnismäßig sein." |
6 | Art. 58 ("Eignungskriterien") der Richtlinie bestimmt in den Abs. 3 und 4: "(3) Im Hinblick auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit können die öffentlichen Auftraggeber Anforderungen stellen, die sicherstellen, dass die Wirtschaftsteilnehmer über die erforderlichen wirtschaftlichen und finanziellen Kapazitäten für die Ausführung des Auftrags verfügen. Zu diesem Zweck können die öffentlichen Auftraggeber von den Wirtschaftsteilnehmern insbesondere verlangen, einen bestimmten Mindestjahresumsatz, einschließlich eines bestimmten Mindestumsatzes in dem vom Auftrag abgedeckten Bereich, nachzuweisen. Zusätzlich können die öffentlichen Auftraggeber verlangen, dass die Wirtschaftsteilnehmer Informationen über ihre Jahresabschlüsse ... bereitstellen. Sie können auch eine Berufshaftpflichtversicherung in geeigneter Höhe verlangen. ... (4) Im Hinblick auf die technische und berufliche Leistungsfähigkeit können die öffentlichen Auftraggeber Anforderungen stellen, die sicherstellen, dass die Wirtschaftsteilnehmer über die erforderlichen personellen und technischen Ressourcen sowie Erfahrungen verfügen, um den Auftrag in angemessener Qualität ausführen zu können. ..." |
7 | In Art. 63 ("Inanspruchnahme der Kapazitäten anderer Unternehmen") der Richtlinie 2014/24 heißt es: "(1) In Bezug auf die Kriterien für die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit gemäß Artikel 58 Absatz 3 und die Kriterien für die technische und berufliche Leistungsfähigkeit gemäß Artikel 58 Absatz 4 kann ein Wirtschaftsteilnehmer gegebenenfalls für einen bestimmten Auftrag die Kapazitäten anderer Unternehmen - ungeachtet des rechtlichen Charakters der zwischen ihm und diesen Unternehmen bestehenden Verbindungen - in Anspruch nehmen. In Bezug auf die Kriterien für Ausbildungsnachweise und Bescheinigungen über die berufliche Befähigung ... oder für die einschlägige berufliche Erfahrung können die Wirtschaftsteilnehmer jedoch nur die Kapazitäten anderer Unternehmen in Anspruch nehmen, wenn diese die Arbeiten ausführen beziehungsweise die Dienstleistungen erbringen, für die diese Kapazitäten benötigt werden. Beabsichtigt ein Wirtschaftsteilnehmer, die Kapazitäten anderer Unternehmen in Anspruch zu nehmen, so weist er dem öffentlichen Auftraggeber gegenüber nach, dass ihm die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen werden, indem er beispielsweise die diesbezüglichen verpflichtenden Zusagen dieser Unternehmen vorlegt. ... Unter denselben Voraussetzungen können Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern nach Artikel 19 Absatz 2 die Kapazitäten von Mitgliedern der Gruppe oder von anderen Unternehmen in Anspruch nehmen. (2) Die öffentlichen Auftraggeber können im Falle von Bauaufträgen, Dienstleistungsaufträgen sowie Verlege- oder Installationsarbeiten im Zusammenhang mit einem Lieferauftrag vorschreiben, dass bestimmte kritische Aufgaben direkt vom Bieter selbst oder - wenn der Bieter einer Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern gemäß Artikel 19 Absatz 2 angehört - von einem Gruppenteilnehmer ausgeführt werden." Italienisches Recht |
8 | Art. 83 ("Auswahlkriterien und Unterstützung bei der Erstellung der Unterlagen") des Decreto legislativo vom 18. April 2016, Nr. 50 - Codice dei contratti pubblici (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 91 vom 19. April 2016) (Gesetzbuch über öffentliche Aufträge) bestimmt in Abs. 8: "Öffentliche Auftraggeber geben die geforderten Teilnahmebedingungen, die als Mindestanforderungen an die Leistungsfähigkeit ausgedrückt werden können, zusammen mit den geeigneten Nachweisen in der Vergabebekanntmachung oder in der Aufforderung zur Interessensbestätigung an und führen die formelle und inhaltliche Prüfung der Durchführungskapazität, der technischen und fachlichen Fähigkeiten einschließlich der Humanressourcen des Unternehmens sowie der tatsächlich durchgeführten Tätigkeiten durch. Für die in Art. 45 Abs. 2 Buchst. d, e, f und g genannten Stellen wird in der Bekanntmachung gegebenenfalls angegeben, in welchem Umfang die verschiedenen Teilnehmer diese Kriterien erfüllen müssen. Die Bevollmächtigte der Bietergemeinschaft muss auf jeden Fall mehrheitlich die Kriterien erfüllen und die Leistungen erbringen. Die Bekanntmachungen und die Aufforderungen zur Angebotsabgabe dürfen unter Meidung des Ausschlusses keine anderen Anforderungen enthalten als die, die in diesem Gesetz und anderen geltenden Rechtsvorschriften vorgesehen sind. Solche Anforderungen sind jedenfalls nichtig." |
9 | Art. 89 dieses Gesetzbuchs, der die Möglichkeit betrifft, die Kapazitäten anderer Unternehmen in Anspruch zu nehmen, sieht in Abs. 1 vor: "Der Wirtschaftsteilnehmer kann einzeln oder in einer Gruppe gemäß Art. 45 für einen bestimmten Auftrag die Anforderung des Erfüllens der in Art. 83 Abs. 1 Buchst. b und c genannten wirtschaftlichen, finanziellen, technischen und beruflichen Voraussetzungen, die für die Teilnahme an einem Vergabeverfahren erforderlich sind, aber auf jeden Fall außer den Anforderungen gemäß Art. 80, dadurch erfüllen, dass er die Kapazitäten anderer Unternehmen - auch Mitglieder der Gruppe - in Anspruch nimmt, und zwar ungeachtet des rechtlichen Charakters der zwischen ihm und diesen Unternehmen bestehenden Verbindungen ..." Ausgangsverfahren und Vorlagefrage |
10 | Die SRR leitete ein Verfahren zur Vergabe der Dienstleistung des Aufkehrens, der Sammlung und des Abtransports zu Beseitigungsanlagen getrennter und ungetrennter fester Siedlungsabfälle und vergleichbarer Abfälle sowie weiterer Dienstleistungen der öffentlichen Hygiene in 33 in ihr zusammengeschlossenen Gemeinden ein. Der Auftrag mit einem Gesamtwert von 42 005 042,16 Euro ohne Mehrwertsteuer und einer Laufzeit von sieben Jahren wurde in drei Lose aufgeteilt. In der Vergabebekanntmachung wurden für jedes Los die Anforderungen an die wirtschaftliche, finanzielle und technische Leistungsfähigkeit festgelegt. Außerdem war für die Vergabe des Auftrags die Anwendung des Kriteriums des wirtschaftlich günstigsten Angebots auf der Grundlage des besten Preis-Leistungs-Verhältnisses vorgesehen. |
11 | Für Los 2 mit einem Wert von 19.087.724,73 Euro, das die Erbringung von Dienstleistungen für elf Gemeinden betraf, wurde der Auftrag an den vorübergehenden Zusammenschluss von Unternehmen aus der Ditta individuale Pippo Pizzo, der Onofaro Antonino Srl und der Gial Plast Srl (im Folgenden: ATI Pippo Pizzo) vergeben, während der vorübergehende Zusammenschluss von Unternehmen aus der Caruter Srl und der Gilma Srl (im Folgenden: ATI Caruter) den zweiten Platz belegte. |
12 | Caruter erhob gegen die Entscheidung über die Vergabe des Auftrags an die ATI Pippo Pizzo Klage beim Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Regionales Verwaltungsgericht Sizilien, Italien). Diese erhob Anschlussklage gegen die Entscheidung über die Zulassung der ATI Caruter zum Vergabeverfahren. |
13 | Mit Urteil vom 19. Dezember 2019 gab das Gericht der Hauptklage statt und erklärte die Zulassung der ATI Pippo Pizzo zum Vergabeverfahren und die Vergabe des Auftrags an sie für nichtig. Im Rahmen der Entscheidung über die Anschlussklage erklärte es auch die Entscheidung über die Zulassung der ATI Caruter zum Vergabeverfahren für nichtig. |
14 | Das Gericht führte aus, dass nach Art. 83 Abs. 8 in Verbindung mit Art. 89 des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge ein bevollmächtigtes Unternehmen stets die Kapazitäten der anderen Wirtschaftsteilnehmer in Anspruch nehmen könne, die der Gruppe angehörten, jedoch unter der Voraussetzung, dass es selbst mehrheitlich die Zulassungsvoraussetzungen erfülle und die Leistungen im Verhältnis zu den anderen Wirtschaftsteilnehmern mehrheitlich erbringe. Im vorliegenden Fall habe die Ditta individuale Pippo Pizzo allein nicht die Voraussetzungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vergabebekanntmachung erfüllt, und sie habe sich nicht auf die Kapazitäten der anderen Unternehmen des vorübergehenden Zusammenschlusses von Unternehmen, dessen Bevollmächtigte sie war, berufen können. |
15 | Caruter legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Consiglio di giustizia amministrativa per la Regione siciliana (Rat für Verwaltungsgerichtsbarkeit der Region Sizilien, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein. Die ATI Pippo Pizzo legte dagegen ein Anschlussrechtsmittel ein. |
16 | Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die vom erstinstanzlichen Gericht vorgenommene Auslegung des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge, wonach der Bevollmächtigte jedenfalls mehrheitlich die Zulassungsvoraussetzungen erfüllen und die Dienstleistungen erbringen müsse, gegen Art. 63 der Richtlinie 2014/24 verstoßen könnte, da dieser Artikel die Möglichkeit eines Wirtschaftsteilnehmers, die Kapazitäten anderer Wirtschaftsteilnehmer in Anspruch zu nehmen, nicht zu beschränken scheine. |
17 | Unter diesen Umständen hat der Consiglio di giustizia amministrativa per la Regione siciliana (Rat für Verwaltungsgerichtsbarkeit der Region Sizilien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Steht Art. 63 der Richtlinie 2014/24, der das Institut der Inanspruchnahme der Kapazitäten Dritter betrifft, in Verbindung mit den in den Art. 49 und 56 AEUV niedergelegten Grundsätzen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs der Anwendung der italienischen nationalen Regelung über "Auswahlkriterien und Möglichkeit der Mängelbehebung", die im Einschub des dritten Satzes des achten Absatzes von Art. 83 des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge enthalten ist, entgegen, wonach die Bevollmächtigte einer Bietergemeinschaft im Fall des Rückgriffs auf das (in Art. 89 des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge geregelte) Institut der Inanspruchnahme der Kapazitäten Dritter auf jeden Fall mehrheitlich die Anforderungen erfüllen und die Leistungen erbringen muss? Zum Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens |
18 | Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. |
19 | Zur Stützung seines Antrags hat das vorlegende Gericht geltend gemacht, dass die vorliegende Rechtssache eine Grundsatzfrage aufwerfe, die sich auf die Entscheidungen von Wirtschaftsteilnehmern auswirke, die die Kapazitäten eines Drittunternehmens in Anspruch nehmen wollten, um sich an einem Vergabeverfahren zu beteiligen, und dass diese Frage Gegenstand zahlreicher Rechtsstreitigkeiten vor italienischen Gerichten sei. Außerdem hänge die Fortsetzung des Verfahrens zur Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftrags von der Entscheidung des Gerichtshofs ab, da es bereits über alle anderen Argumente entschieden habe. Das Los 2 dieses öffentlichen Auftrags schließlich betreffe die Dienstleistung der Sammlung und des Abtransports fester Siedlungsabfälle sowie weitere Dienstleistungen der öffentlichen Hygiene für elf Gemeinden der Region Sizilien und belaufe sich auf 19.087.724,73 Euro. |
20 | Insoweit ist festzustellen, dass nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert. |
21 | Was zunächst den Umstand betrifft, dass die aufgeworfene Frage Gegenstand zahlreicher Rechtsstreitigkeiten in Italien ist, ist darauf hinzuweisen, dass das beschleunigte Verfahren nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 31. August 2010, UEFA und British Sky Broadcasting, C-228/10, nicht veröffentlicht, EU:C:2010:474, Rn. 6), vom 20. Dezember 2017, M. A. u. a., C-661/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:1024, Rn. 17, und vom 18. Januar 2019, Adusbef u. a., C-686/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:68, Rn. 11). |
22 | Die beträchtliche Zahl von Personen oder Rechtsverhältnissen, die möglicherweise von der Vorlagefrage betroffen sind, kann jedoch als solche keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen, der die Anwendung eines beschleunigten Verfahrens rechtfertigen könnte (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. März 2018, Vitali, C-63/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:199, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
23 | Was sodann den Umstand anbelangt, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Antwort abhängt, die der Gerichtshof auf die Vorlagefrage geben wird, so ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass das bloße - wenn auch legitime - Interesse der Rechtsuchenden daran, den Umfang der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte möglichst schnell zu klären, nicht geeignet ist, das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu belegen (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. März 2018, Vitali, C-63/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:199, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
24 | Zur vorgetragenen Dringlichkeit der Arbeiten, die Gegenstand des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftrags sind, ist darauf hinzuweisen, dass sich das Erfordernis der raschen Erledigung eines beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreits weder allein aus dem Umstand ergeben kann, dass das vorlegende Gericht verpflichtet ist, eine zügige Beilegung des Rechtsstreits sicherzustellen, noch allein daraus, dass die Verzögerung oder Aussetzung von Arbeiten, die Gegenstand eines öffentlichen Auftrags sind, für die Betroffenen schädliche Auswirkungen haben kann (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 18. Juli 2007, Kommission/Polen, C-193/07, nicht veröffentlicht, EU:C:2007:465, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 8. März 2018, Vitali, C-63/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:199, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
25 | Was schließlich den Wert des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags betrifft, so können nach ständiger Rechtsprechung wirtschaftliche Interessen - so bedeutend und legitim sie auch sein mögen - für sich genommen die Anwendung des beschleunigten Verfahrens nicht rechtfertigen (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 16. März 2017, Abanca Corporación Bancaria, C-70/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:227, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
26 | Unter diesen Umständen hat der Präsident des Gerichtshofs am 13. Januar 2021 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, dem Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren nicht stattzugeben. Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens |
27 | Die italienische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen wegen des hypothetischen Charakters des aufgeworfenen Problems für unzulässig, da seine Relevanz für den speziellen Gegenstand des Ausgangsverfahrens nicht dargetan sei. |
28 | Insoweit ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C-378/17, EU:C:2018:979, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
29 | Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 29, und Beschluss vom 26. März 2021, Fedasil, C-134/21, EU:C:2021:257, Rn. 48). |
30 | Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Vorlagefrage die Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere von Art. 63 der Richtlinie 2014/24, betrifft und dass die Vorlageentscheidung den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen hinreichend darstellt, um es dem Gerichtshof zu ermöglichen, die Tragweite dieser Frage zu erfassen. |
31 | Überdies ist nicht ersichtlich, dass die begehrte Auslegung in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde oder dass das Problem hypothetischer Natur wäre. Während nämlich Art. 63 der Richtlinie 2014/24 den öffentlichen Auftraggebern nur gestattet, vorzuschreiben, dass das führende Unternehmen einer Gruppe selbst "bestimmte kritische Aufgaben" erfüllt, ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass das Unternehmen, dem der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auftrag erteilt wurde, vom Verfahren ausgeschlossen wurde, weil es die Arbeiten nicht "mehrheitlich" ausgeführt habe, wie es Art. 83 Abs. 8 des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge verlangt. |
32 | Daher ist eine Antwort des Gerichtshofs zu der vom vorlegenden Gericht erbetenen Auslegung für dieses erforderlich, um sein Urteil erlassen zu können. |
33 | Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig. Zur Vorlagefrage |
34 | Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 63 der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit den Art. 49 und 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das bevollmächtigte Unternehmen einer Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern, die an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags beteiligt ist, mehrheitlich die in der Vergabebekanntmachung vorgesehenen Kriterien erfüllen und die Leistungen dieses Auftrags erbringen muss. |
35 | Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2014/24, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar ist. Außerdem sind die Bestimmungen dieser Richtlinie nach ihrem ersten Erwägungsgrund im Einklang mit den Grundsätzen der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit sowie den sich daraus ableitenden Grundsätzen auszulegen. Daher ist die Vorlagefrage nicht gesondert anhand der Art. 49 und 56 AEUV zu prüfen (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2016, Ciclat, C-199/15, EU:C:2016:853, Rn. 25). Da das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen im Übrigen keine neuen Fragen zu den Grundsätzen der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit oder den sich daraus ableitenden Grundsätzen aufwirft, genügt es, die Vorlagefrage unter Bezugnahme auf die Richtlinie 2014/24 zu beantworten. |
36 | Art. 63 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor, dass ein Wirtschaftsteilnehmer für einen bestimmten Auftrag in Bezug auf die Kriterien für die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit und die Kriterien für die technische und berufliche Leistungsfähigkeit die Kapazitäten anderer Unternehmen in Anspruch nehmen kann und dass unter denselben Voraussetzungen Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern die Kapazitäten von Mitgliedern der Gruppe oder von anderen Unternehmen in Anspruch nehmen können. Ferner bestimmt er in Abs. 2, dass die öffentlichen Auftraggeber bei bestimmten Arten von Aufträgen, darunter Dienstleistungsaufträgen, "vorschreiben [können], dass bestimmte kritische Aufgaben direkt vom Bieter selbst oder - wenn der Bieter einer Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern ... angehört - von einem Gruppenteilnehmer ausgeführt werden". |
37 | Indem Art. 83 Abs. 8 des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge dem bevollmächtigten Unternehmen einer Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern vorschreibt, die Leistungen im Verhältnis zu allen Mitgliedern der Gruppe "mehrheitlich" zu erbringen, d. h., die Mehrheit aller vom Auftrag erfassten Leistungen, stellt er eine strengere Voraussetzung als die in der Richtlinie 2014/24 vorgesehene auf. Diese beschränkt sich darauf, dem öffentlichen Auftraggeber zu gestatten, in der Vergabebekanntmachung vorzusehen, dass bestimmte kritische Aufgaben direkt von einem Gruppenteilnehmer ausgeführt werden. |
38 | Nach der mit dieser Richtlinie eingeführten Regelung können die öffentlichen Auftraggeber vorschreiben, dass bestimmte kritische Aufgaben direkt vom Bieter selbst oder, wenn das Angebot von einer Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern gemäß Art. 19 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24 abgegeben wird, von einem Gruppenteilnehmer ausgeführt werden, während nach dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Recht es der nationale Gesetzgeber ist, der horizontal für alle öffentlichen Aufträge in Italien vorschreibt, dass der Bevollmächtigte der Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern die Mehrheit der Leistungen erbringt. |
39 | Zwar sieht Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2014/24 vor, dass die Mitgliedstaaten Standardbedingungen dafür festlegen können, in welcher Form Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern die Anforderungen in Bezug auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit oder die technische und berufliche Eignung nach Art. 58 der Richtlinie zu erfüllen haben. |
40 | Selbst wenn jedoch die Fähigkeit zur Ausführung kritischer Aufgaben unter den Begriff "technische Eignung" im Sinne der Art. 19 und 58 der Richtlinie 2014/24 fallen sollte, was es dem nationalen Gesetzgeber erlauben würde, sie in die Standardbedingungen nach Art. 19 Abs. 2 der Richtlinie aufzunehmen, geht eine Regelung wie die in Art. 83 Abs. 8 Satz 3 des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge, die den Bevollmächtigten der Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern verpflichtet, selbst die Mehrheit der Aufgaben direkt auszuführen, über das hinaus, was die Richtlinie zulässt. Eine solche Regelung beschränkt sich nämlich nicht darauf, zu präzisieren, wie eine Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern im Sinne von Art. 19 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 58 Abs. 4 der Richtlinie sicherstellen muss, dass sie über die für die Ausführung des Auftrags erforderlichen personellen und technischen Ressourcen verfügt, sondern betrifft die Ausführung des Auftrags selbst und verlangt insoweit, dass diese mehrheitlich vom Bevollmächtigten der Gruppe übernommen wird. |
41 | Schließlich trifft es zu, dass die öffentlichen Auftraggeber nach Art. 63 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24 u. a. im Fall von Dienstleistungsaufträgen vorschreiben können, dass "bestimmte kritische Aufgaben" von einem Teilnehmer der Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern ausgeführt werden. |
42 | Trotz geringfügiger Unterschiede zwischen den Sprachfassungen der Richtlinie 2014/24, ergibt sich jedoch aus der Wendung "bestimmte wesentliche Aufgaben" in einigen Sprachfassungen der Richtlinie, darunter der französischen und der italienischen Fassung ("certaines tâches essentielles" und "taluni compiti essenziali"), wie auch aus der Wendung "bestimmte kritische Aufgaben" in anderen Sprachfassungen der Richtlinie wie der spanischen ("determinadas tareas críticas"), der deutschen ("bestimmte kritische Aufgaben"), der englischen ("certain critical tasks"), der niederländischen ("bepaalde kritieke taken") und der rumänischen ("anumite sarcini critice") Fassung, dass nach dem Willen des Unionsgesetzgebers in Übereinstimmung mit der in den Erwägungsgründen 1 und 2 der Richtlinie angeführten Zielsetzung das, was einem einzelnen Wirtschaftsteilnehmer einer Gruppe auferlegt werden kann, nach einem qualitativen und nicht nur quantitativen Ansatz begrenzt werden soll, um die Teilnahme von Gruppen wie z. B. vorübergehenden Zusammenschlüssen von kleinen und mittleren Unternehmen an Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge zu fördern. Eine Anforderung wie die in Art. 83 Abs. 8 Satz 3 des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge, die sich auf "Leistungen", die "mehrheitlich" erbracht werden müssen, erstreckt, läuft einem solchen Ansatz zuwider, geht über die in Art. 63 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24 verwendeten betreffenden Begriffe hinaus und beeinträchtigt damit das mit den einschlägigen Unionsvorschriften verfolgte Ziel, den Bereich des öffentlichen Auftragswesens einem möglichst umfassenden Wettbewerb zu öffnen und kleinen und mittleren Unternehmen den Zugang zu erleichtern (Urteil vom 2. Juni 2016, Pizzo, C-27/15, EU:C:2016:404' Rn. 27). |
43 | Während sich im Übrigen Art. 63 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24 darauf beschränkt, den öffentlichen Auftraggebern zu gestatten, u. a. im Fall von Dienstleistungsaufträgen vorzuschreiben, dass bestimmte Aufgaben von dem einen oder anderen Teilnehmer der Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern ausgeführt werden, verlangt Art. 83 Abs. 8 des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge, dass die Leistungen mehrheitlich nur vom Bevollmächtigten der Gruppe unter Ausschluss aller anderen an ihr beteiligten Unternehmen erbracht wird, und schränkt damit den Sinn und die Tragweite der in Art. 63 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24 verwendeten Begriffe in unzulässiger Weise ein. |
44 | Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 63 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das bevollmächtigte Unternehmen einer Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern, die an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags beteiligt ist, mehrheitlich die in der Vergabebekanntmachung vorgesehenen Kriterien erfüllen und die Leistungen dieses Auftrags erbringen muss. Kosten |
45 | Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: Art. 63 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das bevollmächtigte Unternehmen einer Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern, die an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags beteiligt ist, mehrheitlich die in der Vergabebekanntmachung vorgesehenen Kriterien erfüllen und die Leistungen dieses Auftrags erbringen muss. |
Wann darf eine Ausnahme vom Gebot der Fachlosvergabe gemacht werd...
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VK Bund
Beschluss
vom 10.03.2022
VK 1-19/22
1. Leistungen sind in der Menge aufgeteilt und getrennt nach Art oder Fachgebiet zu vergeben.
2. Welche Teilleistung als ein Fachlos angesehen werden kann, bestimmt sich zunächst nach gewerberechtlichen Vorschriften und der allgemeinen oder regional üblichen Abgrenzung. Dabei ist auch von Belang, ob sich für spezielle Arbeiten ein eigener Markt herausgebildet hat.
3. Das Drucken/Kuvertieren und der anschließende Postversand von Briefen sind Leistungen getrennter Märkte, die grundsätzlich in getrennten Fachlosen auszuschreiben sind.
4. Da die losweise Vergabe grundsätzlich vorrangig ist, hat sich der öffentliche Auftraggeber, wenn ihm eine Ausnahme von diesem Grundsatz aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen erforderlich erscheint, mit dem Gebot einer Fachlosvergabe und den dagegen sprechenden Gründen intensiv auseinanderzusetzen.
5. Der Auftraggeber hat eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Belange vorzunehmen, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden Gründe nicht nur anerkennenswert sein, sondern überwiegen müssen.
6. Im Rahmen dieser Abwägung sind der mit einer Fachlosvergabe allgemein verbundene typische Ausschreibungs-, Prüfungs- und Koordinierungsaufwand sowie ein höherer Aufwand bei Gewährleistungen nicht zu berücksichtigen. Dem Auftraggeber steht jedoch ein Beurteilungsspielraum zu.
In dem Nachprüfungsverfahren
[...]
wegen der Vergabe "Versand von Schreiben aus Fachverfahren beim [...],
Az: V [...], EU-Bekanntmachungs-Nr.: [...] Los 2,
hat die 1. Vergabekammer des Bundes durch den Vorsitzenden Direktor beim Bundeskartellamt Behrens, den hauptamtlichen Beisitzer Oberregierungsrat Dr. Schier und den ehrenamtlichen Beisitzer Portz auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2022 am 10. März 2022
beschlossen:
1. Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens (Gebühren und Auslagen) sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin.
3. Die Zuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin war nicht notwendig.
Gründe:
I.
Die Antragsgegnerin (Ag) machte am [...] die beabsichtigte Vergabe "Versand von Schreiben aus Fachverfahren" europaweit im Rahmen eines offenen Verfahrens bekannt. Der ausgeschriebene Leistungszeitraum umfasst vier Jahre. Die Vergabe ist in vier Lose aufgeteilt, die die jeweiligen Bereiche der Fachverfahren "[...]", "[...]", "[...]" und "[...]" betreffen. Für jedes dieser Fachverfahren/Lose sollen neben dem Versand der Schreiben insbesondere jeweils auch Druck- und Kuvertierungsleistungen beschafft werden. Streitgegenständlich ist nur das Los 2 "[...]".
In der Leistungsbeschreibung zu Los 2 heißt es auszugsweise unter 3.1:
"Der AN erbringt die Leistungen Druck, Kuvertierung und Versand in dem unter Punkt 2.1 beschriebenen Fachverfahren. Alle im Preisblatt geforderten Leistungen werden, mit Ausnahme der optionalen Leistung, vom AN uneingeschränkt erbracht (für eine ausführliche Beschreibung der Schnittstelle s. Anlage 1).
[Die Ag] erstellt in dem oben genannten Verfahren Schreiben, die je nach Verfahren mittels Zustellungsurkunde mit doppelter Kuvertierung oder per Standardversand an die betroffenen juristischen oder natürlichen Personen versandt werden. Die zuzustellenden Bescheide sind in den Fällen, in denen mittels Zustellungsurkunde zugestellt werden muss, in einem Umschlag zu kuvertieren, der wiederum in einem zweiten Umschlag mit der Zustellungsurkunde zu kuvertieren ist ("Doppelkuvertierung"). Bei Standardversand erfolgt die Kuvertierung in einem Umschlag. Die Sendungen umfassen unterschiedlich viele Seiten.
Die Sendungsdaten werden durch [die Ag] zunächst GPG-verschlüsselt und über einen SSH File Transfer Protocol (SFTP)-Server, der durch den AN bereitzustellen ist, übermittelt.
Die Datenannahme sowie die Übergabe der gedruckten Sendungen an den Versanddienstleister sollen [der Ag] elektronisch mitgeteilt werden. Es muss nachvollziehbar geprüft werden können, dass ein Schreiben gedruckt und kuvertiert übergeben wurde.
Im Falle einer erfolgreichen Zustellung per Zustellungsurkunde müssen und im Falle einer erfolglosen Zustellung per Zustellungsurkunde können die Zustelldaten - neben dem Rücklauf der Original-Zustellungsurkunde auf dem Postweg - auch elektronisch an [die Ag] zurück übermittelt werden. Dies hat über dieselbe Schnittstelle zu erfolgen wie die Übermittlung der Daten zum Druck und Versand (verschlüsselt per SFTP-Transfer, s. Anlage 1 zu dieser Leistungsbeschreibung).
Bleiben Rückmeldungen über den Versandstatus bestimmter Schreiben wider Erwarten aus, muss der AN recherchieren, ob das Schreiben erfolgreich gedruckt, kuvertiert, frankiert und versandt wurde, ob es zugestellt wurde oder nicht bzw. ob das Schreiben verschollen ist. Das Ergebnis der Recherche wird dem AG mitgeteilt."
Aus dem unter 3.2 der Leistungsbeschreibung dargestellten Mengengerüst ergibt sich, dass insgesamt für die Laufzeit von vier Jahren eine Höchstmenge von 208.000 Sendungen beauftragt werden soll (152.000 formlose Versendungen sowie 56.000 förmliche Versendungen mit Zustellungsurkunde).
Unter 3.3-(2) der Leistungsbeschreibung zu Los 2 steht:
"[A] Es wird bestätigt, dass vom AN Schreiben mit einer Zustellungsurkunde zusammengeführt werden ("doppelte Kuvertierung") können."
Aus den "Erläuterungen zum Kriterienkatalog" ergibt sich, dass die Abkürzung "A" für "Ausschlusskriterium" steht. "Wird ein 'Nicht erfüllt' angekreuzt, kann dies zum Ausschluss aus dem Verfahren führen".
Als eines der "B-Kriterien" mit einer, insoweit aus dem Kriterienkatalog ersichtlichen, Gewichtung von 5,56 % wird unter Punkt 3.4-(13) der Leistungsbeschreibung aufgeführt:
"Innerhalb welchen Zeitraums erfolgt gewöhnlich der Versand/die Zustellung an den Adressaten?
5 Tage oder länger: = 0 Pkt.; 3 bis 4 Tage = 5 Pkt.; 2 oder weniger = 10 Pkt."
In den Bewerbungsbedingungen heißt es unter 6.1.2 Eignungsprüfung auszugsweise:
"Folgende Erklärungen, Nachweise hat der Bieter [...] je Los vorzulegen, damit dessen Eignung geprüft und festgestellt werden kann. Hierbei gelten folgende Mindesteignungsanforderungen:
[...]
- Nichterfüllen der Mindestpunktzahl von 60% bei der Bewertung der einzureichenden Referenzen (vgl. Anlage 07 der BWB).
Hinweis zum Bewertungsvorgehen der einzureichenden Referenzen:
In der Anlage 7 zu den BWB hat der Bieter je Los mindestens zwei Referenzen anzugeben und zu beschreiben, die mit dem Ausschreibungsgegenstand vergleichbar sind (Mindestanforderung). Werden Angebote für mehrere oder alle Lose abgegeben, ist die Referenzabfrage für jedes Los, auf das geboten wird, auszufüllen und einzureichen. Sofern sich die Referenzen bei einem oder mehreren Losen wiederholen, ist dies unschädlich. Darüber hinaus muss die Bewertung der eingereichten Referenzen mindestens 60% der maximal erreichbaren durchschnittlichen Bewertugnspunktzahl über alle eingereichten Referenzen ergeben (Mindestpunktzahl).
[...]
Rechenbeispiel 2: [...] Somit würde der Bieter die definierte Mindestpunktzahl von 60% bei der Referenzprüfung nicht erreichen und das Angebot ist wegen Nichterreichens von Mindestanforderungen bei der Eignung auszuschließen."
Die "Anlage 6 zu den Bewerbungsbedingungen (BWB)", die weiter mit "Eigenerklärung zur Eignung" überschrieben ist und auf die in der Auftragsbekanntmachung unter III.1.1 (Befähigung zur Berufsausübung) sowie III.1.2 (Wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit) mittels eines Direktlinks verwiesen wird, enthält keine Angaben hinsichtlich geforderter Referenzen. Bezug zu möglichen Referenzleistungen hat nur Punkt 4., unter dem der "Umsatz durch Leistungen, die vergleichbar zu der zu vergebenen Leistung sind" für die letzten drei Jahre anzugeben ist. Der Punkt III 1.3. (Technische und berufliche Leistungsfähigkeit) ist in der Auftragsbekanntmachung nicht enthalten.
Anlage 7 zu den Bewerbungsbedingungen enthält eine "Referenzabfrage". Innerhalb der dort anzugebenden "Fachlichen Rahmenbedingungen zur Referenz", die insgesamt mit 60% Gewicht bewertet werden, werden u.a. Angaben zu Druck ("kein Druck: 0 P; doppelseitiger Druck: 10 P"), Kuvertierung ("Keine Kuvertierung: 0 P.; einfache Kuvertierung: 5 P; doppelte Kuvertierung bei PZU: 10 P") , Versand ("kein Versand: 0 P; [...] formlos und mittels PZU bundesweit: 10 P") sowie zum Datenaustausch über eine bi-direktionale Schnittstelle zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer ("keine elektronische Schnittstelle: 0 P; [...] gesamter Datenaustausch (Datenannahme und Zustelldaten) über elektronische Schnittstelle: 10 P.") abgefragt.
In der Vergabeakte finden sich mehrere Vermerke, die ausführlich die Frage der Losaufteilung behandeln.
Im Vermerk vom 28. Juni 2021 überlegte die Ag, aus der Gesamtheit der anzufertigenden und zu versendenden Schreiben aller vier Fachverfahren Mengenlose zu bilden, verwarf diese Möglichkeit jedoch, weil wechselnde Dienstleister eine Zuordnung etwaiger Fehler erschwerten und viele technische Vorkehrungen erforderlich seien, die aufgrund der Kürze der Zeit nicht realisierbar seien. Auch würden Teillose zu deutlich höheren Preisen führen. Es sei nicht abzusehen, dass verschiedene Auftragnehmer über die gleichen Systeme zur Leistungserbringung verfügten, so dass die Ag neben der Sicherstellung der technischen Kompatibilität ("Schnittstellen") auch einen erhöhten organisatorischen Aufwand betreiben müsse. Auch eine Aufteilung in Fachlose komme nicht in Betracht. Die Datenübermittlung für die zuzustellenden Schreiben aller an die Schnittstelle angebundenen Fachverfahren erfolge über dieselbe Schnittstelle wie der Rücklauf der Daten, die mit den ursprünglich von der Ag übersandten Daten abgeglichen und diesen zugeordnet würden. Es würde einen erheblichen zusätzlichen technischen und organisatorischen Aufwand bedeuten, wenn verschiedene Auftragnehmer diese Daten untereinander und mit der Ag abstimmen müssten. Die erforderliche Zusammenarbeit der verschiedenen Dienstleister sei mit Risiken für die Geschäftsprozesse der Ag verbunden. Es sei unklar, wie die Haftung eines Auftragnehmers festgestellt werden könne, wenn z.B. bei Ausbleiben einer Zustellinformation der Auftragnehmer für den Druck behaupte, er habe die Schreiben gedruckt und an den weiteren Auftragnehmer übergeben, welcher jedoch angebe, er habe das gedruckte Schreiben nie erhalten. Auch die Einhaltung der Datenschutzrichtlinien würde eine enorme Dokumentationspflicht sowie ggf. eine Meldepflicht seitens der Ag bewirken. Neben personellen, technischen und organisatorischen Aufwänden für alle Auftragnehmer und die Ag würden auch zusätzliche Kosten entstehen. Auszugehen sei insoweit von einem Arbeitsaufwand alleine im ersten Jahr von (im Vermerk näher aufgeschlüsselt) 99 Personentagen je Schnittstelle und Dienstleister, für die weiteren drei Jahre des Auftrages von je 15 Personentagen je Schnittstelle und Dienstleister. Aufgrund möglicher Effizienzen bei gleichzeitigem Besprechen unterschiedlicher Schnittstellen in Workshops etc. werde pro Schnittstelle insoweit mit 65 Personentagen gerechnet. Bei dem unterstellten Szenario der Umstellung der beiden aktuellen Schnittstellen und der, in der Leistungsbeschreibung erwähnten, Anbindung von vier weiteren Fachverfahren würde, bei Einbeziehung der Folgekosten für jeweils zwei Jahre, auch bei Berücksichtigung von nur zwei Auftragnehmern ein Aufwand von rund 1,3 Mio. Euro entstehen.
Im Vermerk vom 25. November 2021 legte die Ag nach erneuter rechtlicher Prüfung dar, dass eine mengenmäßige Losaufteilung nach den technischen Fachverfahren erfolgen solle. Damit habe jeder Fachbereich einen Ansprechpartner, was die Recherche von Versandergebnissen und Fehleranalysen vereinfachen würde und auch im Sinne kleiner und mittlerer Unternehmen sei, die das Volumen des größten Fachverfahrens ggf. gar nicht bewerkstelligen könnten. Eine Bildung von Mengenlosen und damit ein Dienstleisterwechsel innerhalb der einzelnen Fachverfahren sei dagegen technisch nicht mit angemessenem Aufwand realisierbar. U.a. müssten die Metadaten der Schnittstellenbeschreibung um den Dienstleister ergänzt werden, damit die Ag nachvollziehen könne, wer welchen Versandauftrag erhalten habe.
Bei der Antragstellerin (ASt) handelt es sich um ein gem. § 5 PostG lizensiertes Postbeförderungsunternehmen. Aus dem Internetauftritt der ASt ergibt sich, dass diese, in Zusammenarbeit mit Partnerunternehmen, ihren Kunden auch den Service anbietet, Briefsendungen elektronisch zu übermitteln, die dann ausgedruckt und deutschlandweit versandt werden.
Mit Schreiben ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 17. Januar 2022 rügte die ASt die Gestaltung der Vergabe als rechtswidrig. Speziell griff sie die unterlassene Aufteilung des Auftrages in Fachlose (Druck bzw. Versand) sowie die fehlende Unterteilung in Gebietslose hinsichtlich bestimmter Zustellregionen an. Auch sei faktisch nur ein einziges Unternehmen in Deutschlang in der Lage, den Auftrag auszuführen, nämlich die [...].
Mit Schreiben vom 25. Januar 2022 wies die Ag die Rüge zurück. Die Ag habe eine mengenmäßige Losaufteilung nach den technischen Fachverfahren gewählt. Vorliegend erfolge daher keine Gesamtvergabe. Bei der Bündelung von Druck-, Kuvertierungs- und Versandleistungen handele es sich um marktgängige Leistungen, die in einem nicht sachgerecht lösbaren Zusammenhang stünden. Mehrere Schnittstellen mit Anbindungen an unterschiedliche Auftragnehmer erhöhten die Möglichkeit von technischen Inkompatibilitäten. Eine Aufteilung in Fachlose bedeute einen über das übliche Maß deutlich hinausgehenden Aufwand für Koordination und Integration der Leistungserbringung. Durch die Mengenaufteilung sei ein Wettbewerb gewährleistet. Die ASt erbringe selbst deutschlandweit Zustellleistungen und könne z.B. auch Unterauftragnehmer beauftragen.
Die ASt hat bis zum Ablauf der Angebotsfrist kein Angebot abgegeben.
1. Mit Schreiben ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 4. Februar 2022 stellt die ASt Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer.
a) Der Nachprüfungsantrag sei zulässig und begründet.
- Die ASt als lizensiertes Postdienstleistungsunternehmen habe ein besonderes Interesse an dem im Auftrag enthaltenen Versandauftrag, ihr sei jedoch die Abgabe eines Angebotes in Ermangelung einer wettbewerbskonformen Losbildung nicht möglich.
Es liege eine subjektive Rechtsverletzung der ASt vor. Diese verfüge aktuell noch über keine ausreichenden Referenzen im Bereich des Drucks und der Kuvertierung. Insbesondere könne sie aktuell nur standardisierte Druckaufträge übernehmen. Auch könne sie die als Ausschlusskriterien ausgestalteten Mindestanforderungen nicht erfüllen. Insbesondere sei es ihr mit der derzeit eingesetzten Kuvertiermaschine technisch nicht möglich, Schreiben mit einer Zustellungsurkunde zusammenzuführen ("doppelte Kuvertierung"). Eine Beteiligung an der hiesigen Ausschreibung wäre der ASt somit nicht möglich.
- Die unterlassene Aufteilung in das Fachlos Druck und Kuvertierung sowie in das Fachlos Versand/Zustellung verstoße gegen § 97 Abs. 4 S. 1 GWB. Maßgeblich für die Beurteilung, ob Elemente einer zusammengefassten Vergabe einzelne Fachlose darstellten, sei, ob für die Einzelelemente eigene Märkte bestünden. Für Druck und Kuvertierung sowie die anschließende Zustellung der Sendungen bestünden gänzlich verschiedene Märkte. Bei der Losbildung sei dem Auftraggeber zwar ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Ob jedoch technische oder wirtschaftliche Gründe eine Gesamtvergabe rechtfertigen könnten, sei von den Nachprüfungsinstanzen vollständig überprüfbar.
Die Aufteilung in Mengenlose genüge hier nicht den Maßstäben der Rechtsprechung. Diese könne auch nicht dem Gebot der Losbildung Rechnung tragen, da ein funktionaler Zusammenhang der Leistungen der einzelnen Fachverfahren zueinander ohnehin nicht bestehe. Die Verpflichtung zur Bildung von Gebiets-/Teil- und Fachlosen habe der Auftraggeber unabhängig voneinander zu prüfen. Die Bildung von Teillosen mache eine mögliche Fachlosvergabe nicht entbehrlich.
Die Ag habe schon eine unzureichende Abwägung getroffen. Die Dokumentation im Vergabevermerk zeige, dass sie ausschließlich einseitig die Gründe erwogen habe, die für eine Gesamtvergabe sprächen. Erwägungen, wie die Fachlosvergabe ermöglicht werden könnten, fänden sich nicht, obwohl die Aufteilung der Leistungen in Druck/Kuvertierung und Versand nach der Rechtsprechung für Postdienstleistungen marktüblich sei.
Es gebe, ungeachtet der bereits unzureichenden Abwägung, keine sachliche Rechtfertigung für die Gesamtvergabe. Entsprechende Gründe müssten überwiegen, insbesondere, wenn sich der relevante Markt - wie der Postmarkt - nach Aufhebung eines staatlichen Monopols gerade erst herausbilde und dem Gebot der Losbildung zur Förderung des Wettbewerbs besondere Bedeutung zukomme. Unzureichend zur Begründung einer Gesamtvergabe seien die als typische Folgen einer Fachlosvergabe vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommenen Nachteile, u.a. aufwändigeres Vergabeverfahren, Mehrheit von Gewährleistungsgegnern, erhöhter Koordinierungsaufwand oder Schnittstellenproblematiken.
Die Ag bestreite gar nicht, dass die Daten zu den einzelnen Sendungen sowie den Versandinformationen technisch durch mehrere Dienstleister, die über eine kompatible Schnittstelle angebunden seien, eingespeist werden könnten. Der von der Ag geltend gemachte finanzielle Mehraufwand bei der Fachlosvergabe sei nicht nachvollziehbar. Vielmehr dürfte sich der Abgleich der Ausgangs- und Versanddaten technisch automatisieren und synchronisieren lassen. Die Ag verweise hinsichtlich des unterstellten Aufwandes auf den Vergabevermerk, der jedoch lediglich einen Rechenweg ohne Erläuterung der diesem zugrunde liegenden Vorgänge enthalte. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der von der Ag angenommene Aufwand tatsächlich anfalle und in einem Ursachenzusammenhang zu der von der ASt begehrten Fachlosvergabe stehe. Bei einer Losaufteilung hole der Briefdienstleister die gedruckten und kuvertierten Sendungen ab und stelle diese zu. Rückläufer, insbesondere die der PZU, würden im Regelfall an den Druckdienstleister zurückgegeben. Aus welchem Grund für diese Vorgänge ein derart erheblicher IT-Aufwand entstehen solle, sei schleierhaft. In einem anderen Nachprüfungsverfahren habe die Kammer bei festgestellten 125.000 Euro zusätzlichen Kosten für die Losbildung ausgeführt, dass auf dem Postmarkt regelmäßig besondere und über in anderen Märkten übliche Regelungen hinausgehende Maßnahmen erforderlich seien, um überhaupt erst das Entstehen eines chancengleichen und funktionsfähigen Wettbewerbs zu ermöglichen und zu fördern. Dieser Aufwand sei von der Ag hinzunehmen.
Auch bei einer Fachlosbildung sei eine klare Verantwortungszuordnung möglich. Druck/Kuvertierung und Versand ließen sich klar voneinander abgrenzen. Es könnten auch Sendungsnummern auf den Brief aufgedruckt werden, diese Nummer könne sodann bei der Sortierung der Sendung ausgelesen und die Verarbeitung so bestätigt werden. Es sei bei Briefdienstleistungen marktüblich, die Abgrenzung der Verantwortlichkeiten vertraglich zu regeln. Die Betonung der Ag hinsichtlich der Bedeutung der in Rede stehenden Briefsendungen ändere nichts daran, dass es sich um reguläre Briefsendungen handele, welche ebenso transportiert würden wie Briefsendungen anderer Auftraggeber.
Der Verzicht auf eine Fachlosbildung sei auch nicht deshalb zulässig, weil die Ag berechtigt wäre, den "sichersten Weg" zu wählen. Die Lizenzierung nach § 5 PostG biete die Gewähr dafür, dass die Dienstleister auch Sendungen mit sensiblen Inhalten befördern dürften.
Auch der von der Ag angeführte erhöhte datenschutzrechtliche Dokumentationsaufwand könne nicht gegen eine Aufteilung in zwei Fachlose sprechen. Insbesondere sei darauf hinzuweisen, dass die reinen Versandleistungen eines Postdienstleisters dem Postgeheimnis gem. § 39 PostG unterlägen, aber darüber hinaus keine datenschutzrechtlich relevante Auftragsverarbeitung darstellten. Der Postversand, einschließlich Frankierung und Erfassung unzustellbarer Sendungen, habe als reine Transportdienstleistung nicht die Verarbeitung personenbezogener Daten zum Gegenstand. Entsprechend ordneten auch die deutschen Datenschutzaufsichtsbehörden einen Postdienst für den Brieftransport nicht als Auftragsverarbeitung, sondern als "Inanspruchnahme fremder Fachleistungen bei einem eigenständig Verantwortlichen" ein. Datenschutzrechtliche Erwägungen könnten daher nicht als technischer oder wirtschaftlicher Grund eine Gesamtvergabe rechtfertigen.
- Der Verzicht auf die Bildung von Gebietslosen hinsichtlich bestimmter Zustellungsregionen verstoße gegen § 97 Abs. 4 S. 1 f. GWB. Dem Mittelstandsschutz komme bei der Vergabe von Aufträgen im Postdienstleistungssektor eine hervorgehobene Bedeutung zu, der durch die Bildung von Gebietslosen Rechnung zu tragen sei.
- Auch liege durch den Loszuschnitt ein Verstoß gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung gem. § 31 Abs. 6 VgV vor. Die ohne Aufteilung in Fach- und Gebietslose ausgeschriebenen Druck/Kuvertierungs- und Versanddienstleistungen könnten, davon gehe die ASt aufgrund ihrer Marktkenntnis gesichert aus, de facto bundesweit nur von der [...] erbracht werden. Eine sachliche Rechtfertigung hierfür sei nicht ersichtlich.
Die ASt beantragt über ihre Verfahrensbevollmächtigten
die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens gemäß §§ 160 ff. GWB.
Weiter beantragt sie:
1. Der Ag wird untersagt, einen Zuschlag zu erteilen. Bei fortbestehender Beschaffungsabsicht ist das Vergabeverfahren unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen.
2. Der ASt wird Akteneinsicht gemäß § 165 GWB gewährt.
3. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die ASt wird für notwendig erklärt.
b) Mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 16. Februar 2022 beantragt die Ag:
1. Der Nachprüfungsantrag vom 04.02.2022 wird zurückgewiesen.
2. Die Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten durch die Ag wird für notwendig erklärt.
3. Der ASt werden die Kosten des Verfahrens (Gebühren und Auslagen der Vergabekammer) einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Ag auferlegt.
Der Nachprüfungsantrag sei unbegründet. Es liege kein Verstoß gegen § 97 Abs. 4 GWB vor. Der Ag stehe bei Ausgestaltung und Zuschnitt der Lose ein nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu, den die Ag ordnungsgemäß ausgeübt habe. Der Verzicht auf die weitere Aufspaltung der vier gebildeten Lose sei wegen überwiegender technischer sowie wirtschaftlicher Gründe gerechtfertigt. Auch fehle es der ASt ein einer subjektiven Rechtsverletzung. Bei dem vorliegenden Auftrag handele es sich nicht um den Versand einfacher Post, sondern um die Abwicklung eines formalisierten Verwaltungsverfahrens, so dass der Auftragnehmer auch die Einhaltung der notwendigen Formalien sicherzustellen habe, beispielsweise den Rücklauf von Zustellungsurkunden.
- Die Ag habe vier Lose mit unterschiedlichen Mengen gebildet, was auch der Mittelstandsförderung diene. Die Verpflichtung zur Losbildung verpflichte nicht dazu, eine Ausschreibung so zuzuschneiden, dass bestimmte Wirtschaftsteilnehmer bedient und Fachlose auf das Portfolio potentieller Bieter zugeschnitten würden. Bei der Losbildung genüge es, wenn sich kleine und mittlere Unternehmen auf einzelne Lose bewerben könnten. Die Ag habe sich bei der Losaufteilung an den verschiedenen Fachverfahren orientiert, die jeweils spezifische Anforderungen an die zu erbringenden Leistungen stellten und bei denen verschiedene IT-Fachanwendungen zur Anwendung kämen, die u.a. zum Datenaustausch mit dem jeweiligen Auftragnehmer verwendet würden. Es handele sich insoweit auch um "richtige" Lose, da ein funktionaler Zusammenhang zwischen den einzelnen Leistungen bestehe. Es seien jeweils Druck-/Kuvertier- sowie anschließende Versandleistungen betroffen. Auch würden gemeinsame technische Schnittstellen genutzt.
- Los 2 habe nicht weiter aufgespalten werden müssen. Der insoweit zu beachtende Beurteilungsspielraum der Ag umfasse neben der Losbildung auch die Frage der Fachlosbildung bzw. des Verzichts auf die Bildung weiterer Fachlose. Ausreichend sei, dass die wirtschaftlichen oder die technischen Gründe überwögen. Es bedürfe nicht eines zwingenden, unabweisbaren Grundes. Lose müssten auch nicht so gebildet werden, dass sie dem jeweiligen Bieter "genehm" seien. Die Ag habe eine umfassende Abwägung der verschiedenen Aspekte vorgenommen und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass einer weiteren Aufteilung überwiegende wirtschaftliche und technische Gründe entgegenstünden, was auch in der Vergabeakte dokumentiert sei. Die Ag habe im Vergabevermerk die einschlägige Rechtsprechung in Bezug genommen, sich mit denkbaren Mengenlosaufteilungen beschäftigt und sich unter technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten mit den Folgen einer Fachlosaufteilung befasst. Im Ergebnis der Abwägung sei die Ag zu der Entscheidung gekommen, dass die verschiedenen Aspekte, die gegen eine Aufspaltung von Los 2 sprächen, in ihrem Gesamtgewicht die berechtigten Interessen mittelständischer Unternehmer im konkreten Einzelfall überwögen.
Eine Aufspaltung des Loses 2 in Druck/Kuvertierung einerseits und Versand andererseits sei nicht notwendig. Mit der Bildung der von der ASt begehrten Fachlose wären in der bislang und auch zukünftig zur Anwendung kommenden technischen Schnittstelle [...] wesentliche Umstellungen notwendig. Bei Annahme zweier unterschiedlicher Auftragnehmer rechne die Ag - für die Laufzeit von vier Jahren - mit 288 Personentagen Aufwand zur Herstellung der Schnittstelle zu den beiden Auftragnehmern, was bei Annahme eines marktüblichen Tagessatzes im IT-Segment Mehrkosten - bezogen auf den geschätzten Netto-Gesamtauftragswert bei Los 2 - von knapp 40 % bedeute. Auch sei, aufgrund gesetzlich zwingender Vorgaben, [...] weiterzuentwickeln. Bei Schaffung einer zusätzlichen Schnittstelle - durch die Trennung von Druck/Kuvertierung einerseits und Versand andererseits - wäre eine Verzögerung zu erwarten, die von der zuständigen Projektleitung bei der Ag auf mindestens ein halbes Kalenderjahr geschätzt werde.
Auch würde die Vergabe der Leistung an mehrere Dienstleister zu nicht überschaubaren und über das Normalmaß hinausgehenden Problemen im Hinblick auf die Zuordnung von Verantwortlichkeiten führen. Der zukünftige Auftragnehmer müsse den Rücklauf von Zustellungsurkunden sicherstellen. Das IT-System sehe vor, dass beim Rücklauf der Daten betreffend die Zustellung eines Versandstückes die Daten mit den ursprünglich von der Ag übermittelten Daten abgeglichen und diesen zugeordnet würden. Würde der Auftrag an mehrere Auftragnehmer vergeben, müssten Schnittstellen geschaffen und Zuständigkeitsabgrenzungen vorgenommen werden. Bei Fehlen einer Zustellungsurkunde stelle sich die Frage, welcher der Auftragnehmer für den Verlust verantwortlich sei. Aufgrund des Erfordernisses des Nachweises der gesetzlichen Formalien hinsichtlich der Zustellung gebe es hier eine besondere, über einfache Haftungsabgrenzungsfragen, die jedweder losweisen Vergabe immanent seien, hinausgehende Problemlage.
Der Rücklauf der Zustellungsurkunden sei auch für die Fristüberwachung und Zuverlässigkeit des behördlichen Schriftverkehrs entscheidend. Es handele sich bei dem Rücklauf der Zustellungsurkunden auch um eine wesentliche Leistung des Auftragnehmers, die im Preisblatt auch gesondert ausgewiesen sei. Damit hebe sich der vorliegende Vergabegegenstand deutlich von Standard-Postdienstleistungen ab. Bei besonders sensiblen Beschaffungsgegenständen könne der Auftraggeber von der Bildung weiterer Fachlose absehen und den sichersten Weg wählen. Die Bildung mehrerer neuer Schnittstellen berge das Risiko, dass das gewünschte Zuverlässigkeitsniveau nicht erreicht werde, u.a. wegen technischer Inkompatibilitäten, insbesondere auch nach Updates. Die Gesamtleistung stelle sich hier nicht als Ansammlung von Einzelleistungen dar, sondern als Gesamtsystem, in welchem verschiedene Komponenten aufeinander abgestimmt sein müssten. Die Erbringung aller Leistungsschritte aus einer Hand diene dem legitimen Ziel, ein Höchstmaß an Sicherheit und Zuverlässigkeit zu gewährleisten.
Es handele sich vorliegend nicht um den mit jeglicher Losvergabe verbundenen höheren Koordinierungs- und Kontrollaufwand. Die Sicherstellung der Zuverlässigkeit der Zustellung und des umgehenden Rücklaufs von Zustelldaten sei unabdingbar, um den gesetzlichen Vorgaben zu genügen. Die Schreiben seien inhaltlich besonders sensibel und könnten Grundlage für erhebliche Grundrechtseingriffe sein.
- Es habe sich inzwischen auch ein Markt entwickelt, auf dem Anbieter sowohl Druckleistungen als auch Postdienstleistungen anböten. Auch die ASt selbst sei einer dieser Anbieter.
- Auch eine Aufteilung in Gebietslose sei nicht erforderlich. Dem stünden wirtschaftliche und technische Gründe entgegen. Neben den vorstehend bereits ausgeführten Gesichtspunkten würde hier insbesondere auch eine Vervielfachung der Problematiken entstehen, wenn die Leistung nicht nur in Fach-, sondern ergänzend noch in Gebietslose unterteilt würde.
- Vorliegend sei auch zu beachten, dass in der Ausschreibung keine hohen Anforderungen an die Laufzeiten gestellt würden und auch keine Einschränkungen der Bieter aufgrund einer Vorfrankierung der Sendungen bestünden. Auch sei sie Sendungsmenge bei Los 2 verhältnismäßig klein. Den Mittelstandsinteressen werde daher Rechnung getragen.
- Die ASt sei auch nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt. Es wäre ihr möglich gewesen, ein Angebot einzureichen. Gemäß den Informationen auf der Homepage der ASt biete diese nicht nur Postdienstleistungen an, sondern auch die Möglichkeit, über eine Schnittstelle Daten einzuliefern, welche dann durch die ASt gedruckt sowie kuvertiert und anschließend bundesweit versendet würden. Auch die Angaben der ASt zu den von
ihr jährlich verarbeiteten Briefmengen ließen darauf schließen, dass sie die erforderliche Kapazität zur Bewältigung der Sendungsmenge in Los 2 besitze.
- Es liege auch kein Verstoß gegen das Gebot der Produktneutralität vor. Es gebe mehrere Anbieter, die die geforderte Leistung - auch im geforderten Umfang - erfüllen könnten. Da auch die ASt ein Angebot hätte abgeben können, fehle es auch insoweit an einer subjektiven Rechtsverletzung.
3. Der ASt wurde Akteneinsicht gewährt. In der mündlichen Verhandlung vom 2. März 2022 wurde die Sach- und Rechtslage mit der Ag erörtert; die ASt nahm nicht an der Verhandlung teil. Auf die gewechselten Schriftsätze, die Vergabeakte der Ag, soweit sie der Kammer vorlag, sowie die Verfahrensakte wird Bezug genommen.
II.
Der Nachprüfungsantrag ist zulässig, aber unbegründet. Insbesondere steht die unterlassene Bildung getrennter Fachlose für Druck/Kuvertierung sowie Versand in der hiesigen Sachverhaltskonstellation in Einklang mit dem Vergaberecht.
1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
Er bezieht sich insbesondere auf den Auftrag eines öffentlichen Auftraggebers, der dem Bund zuzurechnen ist und der den Schwellenwert für eine europaweite Ausschreibung gem. § 106 GWB überschreitet.
Die ASt hat die unterbliebene Loseinteilung vor Ablauf der Angebotsfrist gerügt, § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 GWB.
Die ASt kann auch die Verletzung in subjektiven Rechten geltend machen. Sie hat insbesondere vorgetragen, mit ihrer derzeitigen Kuvertiermaschine nicht zur doppelten Kuvertierung in der Lage zu sein und damit eine Mindestanforderung nicht erfüllen zu können. Ungeachtet der Formulierung in den Vergabeunterlagen, dass die Nichterfüllung eines "A-Kriteriums" zum Ausschluss des Angebotes führen "kann", ist davon auszugehen, dass dies auch zu einem Ausschluss führen wird. Die Ag benötigt die doppelte Kuvertierung zwingend, um Sendungen mittels PZU zustellen zu können. Bei unterstellter Bildung eines Fachloses "Briefversand" wäre hingegen davon auszugehen, dass die Forderung des doppelten Kuvertierens insoweit nicht mehr erhoben würde, so dass die ASt bei der begehrten Fachlosbildung zur Angebotsabgabe in der Lage wäre.
Aufgrund dieser klaren subjektiven Betroffenheit der ASt kann letztlich dahinstehen, ob sie auch aufgrund der Referenzanforderungen an der Abgabe eines Angebotes gehindert wurde. Die Referenzen dürften, mangels ordnungsgemäßer Bekanntmachung gem. § 122 Abs. 4 S. 2 GWB, nicht wirksam gefordert sein, da die Auftragsbekanntmachung keinen direkten Link zu den Referenzanforderungen enthält (s. hierzu OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11. Juli 2018, Verg 24/18). Es dürfte jedoch gleichzeitig davon auszugehen sein, dass die ASt dies nicht erkennen musste oder sich jedenfalls nicht darauf einlassen musste, im Vertrauen auf die Unwirksamkeit der Referenzforderung ein Angebot ohne Vorliegen geeigneter Reerenzen abzugeben. Auch die Frage, ob es der ASt ggf. möglich gewesen wäre, mit ihren Referenzen 60 % der maximal erreichbaren Wertungspunkte zu erzielen, kann vor dem Hintergrund der bereits bejahten subjektiven Betroffenheit der ASt durch die unterbliebene Bildung eines Fachloses "Postversand" einerseits sowie der im Ergebnis zu verneinenden Begründetheit des Nachprüfungsantrages offen bleiben.
2. Der Nachprüfungsantrag ist nicht begründet. Im Unterlassen der von der ASt begehrten Fachlosbildung liegt kein Vergaberechtsverstoß. Zwar handelt es sich bei Druck und Kuvertierung in Abgrenzung zum anschließenden Postversand um getrennte Märkte (a). Allerdings ist die zusammenfassende Vergabe von Druck-, Kuvertier- und Versanddienstleistung vorliegend aufgrund der konkreten Umstände zulässig (b). Gebietslose waren von der Ag nicht zu bilden (c). Ein Verstoß gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung liegt nicht vor (d).
a) Zumindest bei Druck- und Kuvertierungsleistungen auf der einen Seite und Versandleistungen auf der anderen Seite handelt es sich um Leistungen getrennter Märkte, die grundsätzlich in getrennten Fachlosen auszuschreiben sind.
§ 97 Abs. 4 S. 2 GWB bestimmt, dass Leistungen in der Menge aufgeteilt und getrennt nach Art oder Fachgebiet zu vergeben sind. Welche Teilleistung als ein Fachlos angesehen werden kann, bestimmt sich zunächst nach gewerberechtlichen Vorschriften und der allgemeinen oder regional üblichen Abgrenzung. Dabei ist auch von Belang, ob sich für spezielle Arbeiten ein eigener Markt herausgebildet hat (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.03.2020 - Verg 10/20).
Drucken/Kuvertieren und anschließender Postversand der Briefe sind grundsätzlich zu trennende Leistungsbereiche. Dies folgt, abgesehen von der fachlichen Abgrenzbarkeit der Leistung der physischen Herstellung eines Schreibens und dessen anschließender Beförderung zum Empfänger, schon daraus, dass es hinsichtlich der Leistung Postversand gesonderte Genehmigungserfordernisse gibt, s. § 5 PostG, so dass schon aus diesem Grund nicht jeder Druckunternehmer die erzeugten Briefe auch an den Adressaten weiterbefördern dürfte (siehe hierzu auch VK-Bund, Beschl. v. 08. Juni 2020 - VK 2-41/20).
Soweit sich die Ag darauf beruft, dass inzwischen ein eigenständiger Markt für die gesamthafte Leistung Druck/Kuvertierung/Postversand entstanden sei, kann dies derzeit nicht überzeugen. Sie verweist konkret lediglich auf den Internetauftritt der ASt, aus dem sich ergibt, dass sie ihren Kunden u.a. den Service anbietet, elektronisch übermittelte Schreiben auszudrucken und an die Adressaten zuzustellen. Unabhängig von der Frage, ob und ggf. ab wann eine solche Entwicklung zu einer Erweiterung einzelner Fachlose um neue Marktbereiche führen kann, ist das Vorbringen der Ag insoweit zu unsubstantiiert. Sie hat z.B. keine weiteren Unternehmen benannt, welche diese Leistungen gebündelt in der erforderlichen Art und Weise anbieten. Soweit sie im Schriftsatz vom 25. Februar 2022 auf eine durchgeführte Recherche und Business-Lösungen im Bereich der Digitalisierung von Postsendungen verweist, betrifft die beigefügte Anlage die Leistung "Digitaler Briefkasten" und damit nicht das von der vorliegenden Vergabe betroffene Leistungsgebiet. Die ASt selbst hält nur ein einziges Unternehmen für geeignet, diesen Auftrag auszuführen. Sie beruft sich - im Rahmen der möglichen subjektiven Rechtsverletzung - darauf, dass sie selbst jedenfalls keine ausreichenden Referenzen im Bereich des Drucks und der Kuvertierung besitze, was dafür spräche, dass sich dieser Geschäftszweig bei der ASt jedenfalls noch nicht am Markt durchgesetzt hat. Auch sei sie technisch nicht in der Lage, die geforderte doppelte Kuvertierung zu erbringen, was, jedenfalls bezogen auf die ASt, auch wieder zeigt, dass noch kein vollumfängliches Angebot verfügbar ist. Als weiteres starkes Zeichen dafür, dass das gebündelte Angebot von Druck, (doppelter) Kuvertierung und Postversand jedenfalls derzeit noch nicht als Leistung "aus einer Hand" marktgängig ist, mag auch das, nach Angebotsöffnung durch die Ag feststehende, sehr enge Bieterfeld in allen vier Losen dienen.
Insgesamt ist derzeit, trotz der der Ag zuzugebenden augenscheinlich erfolgenden zunehmenden Digitalisierung auch im Bereich des Postversandes, von zu trennenden fachlichen Märkten jedenfalls zwischen den Bereichen Druck/Kuvertierung und Postversand auszugehen, die grundsätzlich auch eine gesonderte Ausschreibung in getrennten Losen erfordern.
b) Die zusammenfassende Vergabe von Druck-, Kuvertier- und Postdienstleistungen in einem Los ist hier jedoch gem. § 97 Abs. 4 S. 3 GWB aufgrund überwiegender technischer und (insbesondere) wirtschaftlicher Gründe zulässig.
Da die losweise Vergabe grundsätzlich vorrangig ist, "hat sich der öffentliche Auftraggeber, wenn ihm eine Ausnahme von dem Grundsatz der losweisen Vergabe aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen im Sinne von § 97 Abs. 4 Satz 2 und 3 GWB erforderlich erscheint, mit dem Gebot einer Fachlosvergabe und den dagegen sprechenden Gründen intensiv auseinanderzusetzen. Der Auftraggeber hat eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Belange vorzunehmen, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden Gründe nicht nur anerkennenswert sein, sondern überwiegen müssen" (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.03.2020 - Verg 10/20). Im Rahmen dieser Abwägung sind "der mit einer Fachlosvergabe allgemein verbundene typische Ausschreibungs-, Prüfungs- und Koordinierungsaufwand sowie ein höherer Aufwand bei Gewährleistungen" nicht zu berücksichtigen. Dem Auftraggeber steht jedoch ein Beurteilungsspielraum zu. "Der Kontrolle [durch die Vergabenachprüfungsinstanzen; Anm. der Kammer] unterliegt insofern allein, ob die Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers auf vollständiger und zutreffender Sachverhaltsermittlung und nicht auf einer Fehlbeurteilung, namentlich auf Willkür, beruht" (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.03.2020 - Verg 10/20)
Die Entscheidung der Ag, bei Los 2 auf eine weitere Unterteilung in Fachlose zu verzichten, hält sich innerhalb des der Ag zustehenden Beurteilungsspielraumes.
Von besonderer Relevanz für die Vertretbarkeit der Entscheidung der Ag im Rahmen ihres Beurteilungsspielraumes ist hier, dass die Ag die Gesamtmenge der im Rahmen sämtlicher ausschreibungsgegenständlicher vier Fachverfahren anfallenden Schreiben bereits in Mengenlose anhand der einzelnen Fachverfahren geteilt hat. Dies führt dazu, dass die im streitgegenständlichen Los 2 betroffene Sendungsmenge über die gesamte Laufzeit des vorgesehenen Vertrages nur noch 208.000 Briefe umfasst, was jährlich im Durchschnitt 52.000 Sendungen bedeutet. Insoweit handelt es sich um einen relativ kleinen Auftrag, der - einen reinen Postversand unterstellt - sicherlich von einer Vielzahl von Postdienstleistern erfüllt werden könnte, u.a., in Anbetracht der auf ihrer Homepage zu findenden Angabe zu den jährlich verarbeiteten Briefsendungen und des Hinweises auf die Möglichkeit bundesweiter Zustellung, auch von der ASt.
Vor dem Hintergrund dieser relativ geringen Sendungsmenge und dem entsprechend gering geschätzten Auftragswert in Los 2 erhalten die finanziellen Mehraufwendungen der Ag, die im Fall einer Fachlosbildung und einer Anbindung von zwei Auftragnehmern statt nur einem erforderlich wären, ein hohes Gewicht. Zwar ist zu berücksichtigen, dass der mit einer Losvergabe typischerweise verbundene Mehraufwand, z.B. durch erhöhten Ausschreibungs-, Prüfungs- und Koordinierungsaufwand oder einen höheren Aufwand bei Gewährleistungen, nicht zu einem Verzicht auf eine Losaufteilung führen kann, sondern nach dem Zweck des Losbildungsgebotes in Kauf zu nehmen ist. Weiter ist zu berücksichtigen, dass besonderer Schutz und rechtliche Förderung des Wettbewerbs insbesondere in ehemaligen Monopolmärkten geboten ist, in denen Wettbewerbsunternehmen sich gegen den ehemaligen Monopolisten durchsetzen müssen. Für den Bereich der hier betroffenen Postdienstleistungen gilt nach Art. 87f Abs. 1 und 2 S. 1 GG i.V.m. § 1 PostG ein Fördergebot, dem bei der öffentlichen Auftragsvergabe besondere Bedeutung zukommt. Dieser Förderung bedarf es auch aktuell noch. Nach dem 12. Sektorgutachten der Monopolkommission (Post 2021: Wettbewerb mit neuem Schwung!, K1/S. 3) verfügt die Deutsche Post AG im Briefbereich über eine sehr starke Marktposition mit Marktanteilen von über 97 % im Privatkundenbriefmarkt und - zusammen mit ihren Tochterunternehmen - über 83 % der Umsätze im Geschäftskundensegment. Jedoch ist auch im Rahmen des Losbildungsgebotes zu bedenken, dass ein ebenfalls wichtiges Ziel des Vergaberechts die Wirtschaftlichkeit der Beschaffung ist (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1. Juni 2016 - Verg 6/16).
Unter Berücksichtigung dieser grundlegenden Umstände hält sich die Entscheidung der Ag, bei Los 2 vom Überwiegen wirtschaftlicher (und technischer) Gründe auszugehen und von einer Fachlosbildung abzusehen, innerhalb des ihr zustehenden Beurteilungsspielraumes. Die Ag hat, in Konkretisierung ihres Vergabevermerkes von Juni 2021, der den Aufwand der Losbildung für sämtliche Fachverfahren berechnet, in Rahmen des Nachprüfungsverfahrens hinsichtlich Los 2 dargelegt, dass ihr durch die Abänderung der vorhandenen Schnittstelle, um die Adressierung zweier Auftragnehmer bezüglich Druck-/Kuvertierung auf der einen Seite und Versand auf der anderen Seite zu ermöglichen, Mehrkosten in Höhe von 288.000 Euro netto entstünden. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat sie insoweit erläutert, dass die auf Erfahrungswerten basierenden Zeitaufwände, die im Vergabevermerk angesetzt sind, den Entwicklungsaufwand beträfen, der für die Schaffung zweier neuer Schnittstellen zu veranschlagen sei. Die derzeit vorhandene Schnittstelle könne im Fall der Fachlosbildung nicht mehr genutzt werden, weil die Programmierung der Schnittstelle gebündelt Informationen sowohl bezüglich Druck, Kuvertierung als auch Versand betreffe. Bei einer Fachlosaufteilung könne die bisherige Schnittstelle daher auch nicht für einen der beiden Auftragnehmer weiterverwendet werden, sondern wären tatsächlich zwei neue Schnittstellen erforderlich.
Bei dem von der Ag angegebenen Aufwand handelt es sich zwar lediglich um eine erfahrungsbasierte Schätzung aus vorangegangenen Prozessen, dies ist jedoch ausreichend. So hat die Ag im Vergabevermerk u.a. auch zugunsten der Bieter mögliche Synergieeffekte bei der gleichzeitigen Bearbeitung mehrerer Schnittstellen berücksichtigt. Die Schätzung erscheint insgesamt hinreichend plausibel und objektiv. Ausgehend von dem solcherart ermittelten Mehraufwand, der in Bezug zu dem von der Ag veranschlagten Auftragswert - ohne Fachlosbildung - Mehrkosten von knapp 40 % verursacht, erscheint die Entscheidung der Ag gegen eine Fachlosbildung nicht beurteilungsfehlerhaft. Die von der Ag dargelegten Aufwände sind nachvollziehbar und lassen insbesondere keine willkürliche Entscheidung der Ag befürchten. Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Vergabe (§ 97 Abs. 1 S. 2 GWB) kann in dieser Konstellation das Gebot der Losbildung, auch unter Berücksichtigung der besonderen Situation auf einem ehemaligen Monopolmarkt, nach dem ordnungsgemäß ausgefüllten Beurteilungsspielraum der Ag überwiegen.
Zusätzlich gestützt wird diese wirtschaftliche Betrachtung durch Einbeziehung des technischen Argumentes, dass zusätzliche Schnittstellen zusätzliche Risiken für die ordnungsgemäße Leistungserbringung bedeuten. Der öffentliche Auftraggeber darf sich grundsätzlich für einen sicheren Weg der Leistungserbringung entscheiden und muss keine unnötigen Risiken eingehen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13. März 2020 - Verg 10/20). Weiter von Bedeutung ist hier, dass bei einer Fachlosbildung nicht mehrere Leistungen nebeneinander stehen würden, sondern die Leistungen Drucken, Kuvertieren und Versenden in einer zwingenden Abfolge nur zusammen den Gesamterfolg in Form der nachweisbaren Übersendung bzw. förmlichen Zustellung der Schreiben bewirken können. Im vorliegenden Fall handelt es sich um wichtige behördliche Postsendungen, die u.a. auch Fristen auslösen können. Insoweit hat die Ag ein berechtigtes Interesse an einer lückenlosen Nachvollziehbarkeit des Verarbeitungsweges der Sendungen, die durch eine Mehrzahl technischer Schnittstellen zwischen Ag und verschiedenen Auftragnehmern sowie ggf. auch zwischen diesen Auftragnehmern und den daraus womöglich resultierenden Inkompatibilitäten etc. gefährdet werden könnte. Anzumerken ist dabei jedoch, dass solche Schnittstellenrisiken, jedenfalls auf Grundlage des bisherigen Vortrags der Ag hierzu, nicht für sich alleine genommen einer Fachlosvergabe entgegenstehen könnten, sondern nur der tendenziellen Bestätigung des bereits aufgrund der wirtschaftlichen Konsequenzen einer Fachlosbildung gefundenen Ergebnisses dienen können. Die Ag hätte sich insoweit vertiefter mit den Möglichkeiten auseinandersetzen müssen, z.B. durch Vorgabe von Standards an die Auftragnehmer oder den Betrieb einer eigenen Plattform, an die die Auftragnehmer sich anzubinden haben, mögliche Inkompatibilitäten zu verhindern. Das grundsätzlich sicherlich zu bejahende Risiko technischer Schwierigkeiten bei einer Mehrzahl von Kommunikationspartnern bleibt so für den vorliegenden Einzelfall letztlich schwer einschätzbar.
Auf die weiteren von der Ag zur Rechtfertigung des Verzichts auf die Fachlosbildung geltend gemachten Begründungen kommt es aufgrund des hier maßgeblichen Gewichts der finanziellen Mehraufwendungen bei der Fachlosbildung nicht entscheidend an.
Die Kammer weist jedoch darauf hin, dass z.B. die "unklare Verantwortlichkeitszuordnung" hier kaum als Rechtfertigung unterlassener Losaufteilung dienen kann. Selbst in der Leistungsbeschreibung, die allerdings von einer zusammenfassenden Vergabe von Druck-, Kuvertier- und Versanddienstleistungen ausgeht, ist vorgesehen, dass die Datenannahme sowie die Übergabe der gedruckten Sendungen an den Versanddienstleister der Ag elektronisch mitgeteilt werden sollen. Es müsse nachvollziehbar geprüft werden können, dass ein Schreiben gedruckt und kuvertiert übergeben worden sei. Weshalb diese, in der Leistungsbeschreibung vorausgesetzte, nachvollziehbare Dokumentation der Übergabe an einen Versanddienstleister mit der Konsequenz des Verantwortungsüberganges an diesen nicht möglich sein soll, wenn diesem ein eigenes Fachlos zugewiesen wurde, ist nicht dargelegt.
Vor dem Hintergrund dieser in der Leistungsbeschreibung vorausgesetzten Dokumentation ist auch die von der Ag angeführte Gefahr, im Gewährleistungsfall, also bei Ausbleiben der Lieferung einer Briefsendung an den Adressaten, den Verursacher nicht ermitteln zu können, als gering einzustufen. Der bloße Aufwand, bei unterbliebener Sendungszustellung den Verantwortlichen aus mehreren Dienstleistern heraussuchen zu müssen, ist als der Losbildung immanenter Nachteil von der Ag grundsätzlich hinzunehmen.
Auch den durchaus wichtigen datenschutzrechtlichen Erfordernissen dürften durch entsprechende Vereinbarungen mit den unterschiedlichen Auftragnehmern genügt werden können.
Die Entscheidung der Ag ist - entgegen der Auffassung der ASt - allerdings nicht etwa deshalb angreifbar, weil sie nicht das Ergebnis einer umfassenden Abwägung sei. Hierfür ist auch nicht entscheidend, ob sämtliche Erwägungen der Ag überzeugen können, sondern ob sie sich in ausreichender Tiefe mit dem Gebot der Losbildung befasst hat und Argumente für sowie gegen diese Aufteilung abgewogen hat, von denen jedenfalls im Ergebnis einzelne Gesichtspunkte die Entscheidung der Ag tragen können.
Die Entscheidung der Ag zur zusammenfassenden Vergabe von Druck, Kuvertierung und Versand ist in der Vergabeakte, ergänzt durch die Stellungnahmen im Nachprüfungsverfahren, umfangreich begründet. Dass sich die Ag ernsthaft mit dem Gebot der Losbildung auseinandergesetzt hat, wird nicht zuletzt auch dadurch deutlich, dass sie nach rechtlicher Überprüfung ihrer ursprünglichen Planung, sämtliche Leistungen zu allen nunmehr vier Losen als ein Los zu vergeben, jetzt vielmehr abweichend davon beabsichtigt, den Gesamtauftrag jedenfalls in vier Mengenlose zu teilen. Da es sich jeweils um Druck, Kuvertierung und Versand von elektronisch an die Auftragnehmer zu übermittelnden Briefen handelt, ist durchaus von einer zusammenhängenden Leistung und einer insoweit erfolgten Teillosbildung auszugehen.
Gegen eine ernsthafte und umfassende Abwägung der widerstreitenden Belange durch die Ag spricht auch nicht, dass sich die Vermerke im Wesentlichen um die von der Ag bei Bildung weiterer Lose befürchteten Nachteile drehen. Detaillierten Einblick hat die Ag nur in ihren eigenen Bereich. Hier kennt sie die Abläufe und kann z.B. technische Problemstellen oder Kosten für Änderungen konkret abschätzen. Ausführungen zu den Vorteilen der Losbildung für den Mittelstand müssen hingegen überwiegend abstrakt bleiben. Die Ag hat das Losbildungsgebot und seinen Zweck des Mittelstandsschutzes jedenfalls erkannt und die aus ihrer Sicht einer weiteren Losunterteilung entgegenstehenden Schwierigkeiten dargelegt. Dabei hat sich die Ag mit denkbaren Möglichkeiten der Losbildung befasst - hinsichtlich der Mengenlose letztlich eine Aufteilung entlang der Fachverfahren gewählt, hinsichtlich der Fachlose eine Aufteilung z.B. in das Los Druck, Kuvertierung und das Los Versand erwogen. Vorliegend ist die Ag dem Gebot einer umfassenden Abwägung der für und gegen eine Losaufteilung sprechenden Gründe damit nachgekommen.
c) Die Ag musste auch keine Gebietslose bilden.
Aufgrund der geringen Sendungsmengen dürfte die Bearbeitung des Auftrages auch mittelständischen Postunternehmen möglich sein. Die ASt trägt insoweit schon nicht vor, hierzu nicht imstande zu sein. Sie wirbt auf ihrer Homepage mit einer bundesweiten Zustellung mit eigenen Kräften, unter Rückgriff auf die [...] oder auch in Zusammenarbeit mit der Deutschen Post Ag. In Anbetracht des Umstandes, dass die ASt wie auch weitere mittelständische Postunternehmen zur Erbringung der Postversandleistung, unter Verwendung des eigenen Zustellnetzes, entsprechender Zustellverbünde von Postdienstleistern oder auch der Deutschen Post AG, augenscheinlich im Stande wären, die Schaffung weiterer Schnittstellen zu Auftragnehmern unterstellt zu bildender weiterer Mengenlose für die Ag jedoch mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden wäre (s. insoweit vorstehend), ist eine Bildung von Gebietslosen nicht geboten.
Soweit die ASt auf die Entscheidung der VK-Bund vom 7. Juli 2021 - VK1-54/21 verweist, lag dieser ein in entscheidenden Punkten abweichender Sachverhalt zugrunde. Dort waren in Los 1 rund 17 Mio. Briefe pro Jahr, in Los 2 rund 3 Mio. Sendungen pro Jahr betroffen, gleichzeitig war als Zustellgeschwindigkeit zwingend E+1 in 80 % der Fälle gefordert, in 95 % der Fälle E+2. Vorliegend ist nicht nur die Menge an Briefsendungen drastisch geringer, insbesondere ist auch die Bedeutung der Zustellungsgeschwindigkeit gänzlich anders ausgestaltet. Im Bewertungskriterium 3.4-(13), welches insgesamt nur mit 5,56 % gewichtet ist, werden für die Angabe "2 oder weniger Tage" 10 Punkte vergeben, für "3 bis 4 Tage" immer noch 5 Punkte und für "5 Tage oder länger" 0 Punkte. Auch sofern ein Bieter also nicht über ein eigenes bundesweites Zustellnetz verfügt und insoweit Zeit für die Weitergabe eines Teils der Sendungen z.B. an die Deutsche Post AG einrechnen muss, ist es ihm aufgrund der Gestaltung der Wertungskriterien immer noch möglich, ein grundsätzlich wirtschaftliches, konkurrenzfähiges Angebot abzugeben. Auch die im dortigen Sachverhalt festgestellten 125.000 Euro Änderungskosten für den Auftraggeber waren im Verhältnis zu den angedachten Sendungsmengen bzw. dem Auftragswert deutlich geringer zu gewichten als im vorliegenden Fall.
Soweit die ASt geltend macht, die Ausschreibung verstoße gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung gem. § 31 Abs. 6 VgV, kann dies nicht durchdringen. Dabei kann offenbleiben, ob, wie von der ASt vorgebracht, tatsächlich lediglich die [...] in der Lage wäre, die geforderte Leistung zu erbringen. Ebenso kann offenbleiben, ob die Leistungsbeschreibung überhaupt eine produktspezifische Ausschreibung i.S.d. § 31 Abs. 6 VgV darstellt. Wie vorstehend dargelegt, durfte die Ag die Leistungen Druck, Kuvertierung und Versand ohne Fach- und Mengenlosbildung zusammenfassend für Los 2 ausschreiben. Soweit hierdurch eine produktspezifische Ausschreibung vorliegen sollte, ist dies jedenfalls durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt, wie sich aus § 97 Abs. 4 GWB ergibt. Es handelt sich somit im Ergebnis um eine vergaberechtlich nicht zu beanstandende Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts durch die Ag.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 1 und 4 GWB i.V.m. § 80 Abs.
2, Abs. 3 S. 2 VwVfG.
Die Kosten des Nachprüfungsverfahrens sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung der Ag notwendigen Aufwendungen sind der ASt aufzuerlegen, da sie im Verfahren unterliegt.
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die Ag war nicht notwendig. Die Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung von Verfahrensbevollmächtigten hat die konkrete Situation im Einzelfall zu berücksichtigen. Das vorliegende Nachprüfungsverfahren betrifft im Wesentlichen nur die Frage der Losbildung. Hierbei handelt es sich um materielles Vergaberecht, das zu kennen jeder Vergabestelle obliegt, da sie die diesbezüglichen Überlegungen bereits bei der grundlegenden Gestaltung der jeweiligen Vergabe anstellen muss. In seinem ureigenen Aufgabengebiet, hier hinsichtlich des Zuschnittes der Lose, hat sich ein öffentlicher Auftraggeber die erforderlichen Kenntnisse zu verschaffen. Es ist nicht ersichtlich und von der Ag auch nicht substantiiert dazu vorgetragen, warum es der Ag im vorliegenden Einzelfall nicht möglich gewesen sein sollte, die von ihr mit ausführlicher Begründung getroffene Entscheidung hinsichtlich der Losbildung auch im Verfahren vor der Vergabekammer sachgerecht zu vertreten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Ag über ein Justitiariat verfügt und die interne Prüfung des Loszuschnittes bereits durch den Vergabeprüfungsausschuss begleitet wurde. Vergaberechtlicher Sachverstand ist bei der Ag damit also vorhanden. Auch die von der Ag angeführte gerichtsähnliche Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens vor den Vergabekammern bedeutet keine solche Herausforderung, dass eine - in der mündlichen Verhandlung u.a. auch durch einen Mitarbeiter des Justiziariates vertretene - Behörde hier notwendigerweise der Hilfe eines Rechtsanwaltes bedurft hätte, um sich sachgerecht verteidigen zu können. Auch der Gesichtspunkt der Waffengleichheit - aufgrund der anwaltlichen Vertretung der ASt - kann insoweit keine andere Einschätzung rechtfertigen. Ein Bieterunternehmen muss das Vergaberecht nicht vertieft beherrschen und kann sich daher auch eher in Konstellationen, die ein öffentlicher Auftraggeber selbst bearbeiten können muss, anwaltlicher Hilfe bedienen.
IV.
(...)
Wahl der falschen Verfahrensart ist kein Aufhebungsgrund!
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VK Bund
Beschluss
vom 02.03.2022
VK 1-13/22
Legt der Auftraggeber bei Einleitung des Vergabeverfahrens das Verhandlungsverfahren als Vergabeverfahrensart in der Bekanntmachung fest, obwohl er eigentlich ein nicht-offenes Verfahren mit Teilnahmewettbewerb durchführen wollte, liegt ein vermeidbarer Fehler aus der eigenen Sphäre vor, der den Auftraggeber nicht zur Aufhebung der Ausschreibung berechtigt.
In dem Nachprüfungsverfahren
[
]
wegen der Vergabe "Zivil-gewerbliche Bewachung am Standort [
]", EU-Bekanntmachungs-Nr.: [
],
hat die 1. Vergabekammer des Bundes durch den Vorsitzenden Direktor beim Bundeskartellamt Behrens, die hauptamtliche Beisitzerin Leitende Regierungsdirektorin Brauer und den ehrenamtlichen Beisitzer Dr. Siegismund nach Lage der Akten am 2. März 2022
beschlossen:
1. Es wird festgestellt, dass die Aufhebung des Vergabeverfahrens "Zivil-gewerbliche Bewachung am Standort [
]" die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt.
2. Antragstellerin sowie Antragsgegnerin tragen die Kosten des Verfahrens (Gebühren und Auslagen) jeweils zur Hälfte.
3. Die Antragstellerin trägt die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin zur Hälfte. Die Antragsgegnerin trägt die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zur Hälfte.
4. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin war notwendig.
Gründe:
I.
1. Die Antragsgegnerin leitete mit EU-Bekanntmachung Nr. [
] vom [
] ein europaweites Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb zur Vergabe "Zivil-gewerbliche Bewachung am Standort [
]" in zwei Losen ([
]) nach VSVgV ein.
Im Verlauf des Verfahrens wurden verschiedene Berichtigungen der Bekanntmachung durch die Antragsgegnerin vorgenommen, die die Vertragslaufzeit und die Zuschlagskriterien betrafen. Die gewählte Verfahrensart wurde nicht abgeändert. In der Aufforderung zur Abgabe eines Teilnahmeantrages wurde jedoch als Verfahrensart das nicht-offene Verfahren mit Teilnahmewettbewerb angegeben, ebenso wie in der Aufforderung zur Angebotsabgabe vom 30. August 2021. In der Angebotsaufforderung unter Punkt 4.4 war zudem angegeben, dass keine Verhandlungen vorgesehen sind.
Die Antragstellerin hat am 18. Oktober 2021 für beide Lose Angebote abgegeben. Am 7. Januar 2022 erhielt sie die Mitteilung, ihre Angebote könnten nicht berücksichtigt werden. Die Antragsgegnerin beabsichtige, der [
], den Zuschlag am 3. Februar 2022 in beiden Losen zu erteilen. Dies wurde damit begründet, dass die Antragstellerin nicht das wirtschaftlichste Angebot auf Basis der Zuschlagskriterien eingereicht habe. Mit Schreiben vom 14. Januar 2022 rügte die Antragstellerin die Angebotswertung.
Mit Schreiben vom 20. Januar 2022 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, ihrer Rüge werde abgeholfen und das Vergabeverfahren aufgehoben. Die Aufhebungsabsicht rügte die Antragstellerin mit Schreiben vom 21. Januar 2022. Die Antragsgegnerin teilte mit Schreiben vom 25. Januar 2022 mit, der Rüge vom 21. Januar 2022 werde nicht abgeholfen. Zudem verwies die Antragsgegnerin erneut auf ihre Absicht, das Vergabeverfahren aufzuheben. Mit weiterem Schreiben vom 25. Januar 2022 teilte die Antragsgegnerin allen Bietern folgendes mit:
"Das o.g Verfahren wurde aufgehoben. Die Aufhebung wird wie folgt begründet:
Das Vergabeverfahren wird gemäß § 37 Abs.1 Nr. 4 VSVgV, aufgrund schwerwiegender Gründe ausgehoben. Begründung: fehlerhafte Auftragsbekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union mit der Nummer 2021/S 121-322040.
Das Verfahren wird demnächst neu eingeleitet."
Mit Schreiben vom 25. Januar 2022 rügte die Antragstellerin das Nichtvorliegen eines Aufhebungsgrundes und forderte die Antragsgegnerin auf, die Aufhebung des Vergabeverfahrens zurückzunehmen und das Vergabeverfahren unter Beseitigung der gerügten Verstöße fortzusetzen. Die Antragsgegnerin lehnte eine Abhilfe mit Schreiben vom
26. Januar 2022 ab.
2. Mit Schreiben ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 27. Januar 2022 beantragte die Antragstellerin bei der Vergabekammer des Bundes die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens. Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag am 28. Januar 2022 an die Antragsgegnerin übermittelt.
a) Die Antragstellerin hat zunächst vorgetragen, die Aufhebung des Vergabeverfahrens sei unwirksam und das Vergabeverfahren müsse fortgesetzt werden. Ein vergaberechtlich zulässiger Aufhebungsgrund liege nicht vor, da die Voraussetzungen des § 37 Abs. 1 Nr. 4 VSVgV nicht erfüllt seien. Die veröffentlichte, jedoch nicht beabsichtigte Durchführung eines Verhandlungsverfahrens mit Teilnahmewettbewerb anstelle eines nicht offenen Verfahrens stelle einen unbeachtlichen Motivirrtum dar. Dieser führe nicht zur Rechtswidrigkeit des Vergabeverfahrens, welche eine Aufhebung rechtfertigen könne. Es handele sich um ein zulässiges Verfahren nach § 11 VSVgV. Als schwerwiegende Gründe im Sinne des § 37 Abs. 1 Nr. 4 VSVgV seien nur solche Gründe anerkannt, die dem Auftragsgeber trotz sorgfältiger Prüfung erst nach Beginn der Ausschreibung bekannt geworden und von ihm nicht zu vertreten seien und ein solches Gewicht hätten, dass dem Auftraggeber ein Festhalten nicht zugemutet werden könne. Für das Vorliegen von schwerwiegenden Gründen reiche nicht jedes rechtliche oder tatsächliche fehlerhafte Verhalten des Auftraggebers aus. Für eine Fortsetzung des Vergabeverfahrens spreche auch die Mitteilung der Antragsgegnerin vom 25. Januar 2022, worin die weiterhin bestehende Vergabeabsicht bestätigt werde, indem dort mitgeeilt werde, den Auftrag in Kürze neu auszuschreiben zu wollen. Es handele sich somit um eine rechtswidrige Scheinaufhebung.
Soweit die Aufhebung wirksam sein sollte, weil in der Sache gerechtfertigt, sei jedenfalls deren Rechtswidrigkeit festzustellen. Denn sowohl die fehlerhafte Bekanntmachung, als auch der Motivirrtum hinsichtlich der tatsächlich beabsichtigten Verfahrensart eines nicht offenen Verfahrens anstelle der tatsächlich erfolgten Bekanntmachung eines Verhandlungsverfahrens mit vorgeschalteten Teilnahmewettbewerb sei der Risikosphäre der Antragsgegnerin zuzuordnen. Der Nachprüfungsantrag sei damit jedenfalls als Feststellungsantrag zulässig und begründet, da dieser der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufhebung des Vergabeverfahrens und des Nichtvorliegens rechtfertigender Aufhebungsgründe als Verstöße gegen das Vergaberecht zur Vorbereitung von Schadensersatzansprüchen diene. Der Antragstellerin seien durch die Beteiligung am Vergabeverfahren Kosten entstanden, die bei rechtswidriger Aufhebung des Verfahrens vergeblich aufgewendet worden seien.
Die Antragstellerin hat mit dem ihrem Nachprüfungsantrag zugrunde liegenden Schriftsatz zunächst beantragt,
1. die Gewährung von Akteneinsicht in die Vergabeakten des Antragsgegners gemäß § 165 Abs. 1 GWB,
2. festzustellen, dass die Antragstellerin durch das Verhalten des Antragsgegners in dem Vergabeverfahren "Ausschreibung zivil-gewerblicher Bewachung am Standort [
]", Referenznummer des Antragsgegners [
], Bekanntmachungsnummer [
] vom [
] im Supplement zum Amtsblatt der europäischen Gemeinschaften, in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt wird,
3. geeignete Maßnahmen zu treffen, um die von der Vergabekammer festgestellten Rechtsverletzungen zu beseitigen, insbesondere, die Antragsgegnerin zu verpflichten, die geltend gemachten Verstöße gegen die Bestimmungen des Vergaberechts zu beseitigen und unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der
Vergabekammer das Vergabeverfahren fortzuführen,
4. hilfsweise zu 4.: Für den Fall der Erledigung des Nachprüfungsverfahrens durch die Aufhebung oder in sonstiger Weise festzustellen, dass eine Rechtsverletzung vorgelegen hat,
5. festzustellen, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für die Antragstellerin erforderlich gewesen ist,
6. dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Mit weiterem Schriftsatz vom 10. Februar 2022 trägt die Antragstellerin ergänzend vor, dass - nachdem die Antragsgegnerin mit ihrer Antragserwiderung an der Aufhebung festhalte - sich das Nachprüfungsverfahren durch Aufhebung erledigt habe. Das Nachprüfungsverfahren sei als Fortsetzungsfeststellungsantrag zur Feststellung der Rechtwidrigkeit der Aufhebung des Vergabeverfahrens zulässig und begründet, da sich die Antragsgegnerin nicht auf einen Aufhebungsgrund gemäß § 37 Abs. 1 VSVgV zur Rechtfertigung der Aufhebungsentscheidung berufen könne.
Sie beantragt nunmehr,
festzustellen, dass die Aufhebung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens nicht von einem Aufhebungsgrund des § 37 Abs. 1 VSVgV gedeckt ist und die Antragstellerin durch die Aufhebung in ihren Rechten als Bieter gemäß § 97 Abs. 6 GWB verletzt wird, festzustellen, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für die Antragstellerin erforderlich gewesen ist und dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
b) Die Antragsgegnerin beantragt zuletzt,
1. den Feststellungsantrag der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin zurückzuweisen,
2. der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens sowie ihre Aufwendungen aufzuerlegen.
Der Nachprüfungsantrag sei unbegründet. Die Aufhebung des Vergabeverfahrens gemäß § 37 Abs. 1 Nr. 4 VSVgV sei wegen anderer schwerwiegender Gründe rechtmäßig erfolgt. Die Antragsgegnerin sei davon ausgegangen, ein nicht-offenes Verfahren durchzuführen. Die Durchführung von Verhandlungen habe sie daher auch in der Aufforderung zur Angebotsabgabe ausgeschlossen. Die Aufhebung sei nicht aus Willkür erfolgt, sondern um bestehende Unklarheiten aus dem geführten Verfahren zu beseitigen. Die Bekanntmachung sei fehlerhaft gewesen, da die falsche Verfahrensart angegeben worden sei. Allen Bietern müsse die Gelegenheit gegeben werden, in einem widerspruchsfreien und transparenten Verfahren ein Angebot abzugeben. Mit der Aufhebung sei dem Begehren der Antragstellerin insoweit abgeholfen, dass die in der Mitteilung nach § 134 GWB benannte Bieterin den Zuschlag nicht erhalte. Die Aufhebung des Verfahrens sei eine transparente Lösung, da alle Verfahrensbeteiligten die Gelegenheit erhielten, erneut an der Ausschreibung teilzunehmen. Ein Zurückversetzen in den vorherigen Stand hätte im konkreten Fall kein milderes Mittel dargestellt, da das Verfahren in den Stand vor der Bekanntmachung hätte zurückversetzt werden müssen.
Die Vergabekammer hat der Antragstellerin nach vorheriger Zustimmung der Antragsgegnerin Akteneinsicht in die Vergabeakte gewährt, soweit diese keine Geschäftsgeheimnisse enthielt.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer sowie auf die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, wird ergänzend Bezug genommen.
II.
Die Entscheidung ergeht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach Lage der Akten, § 166 Abs. 1 Satz 3 1. Alt. GWB.
Der zuletzt gestellte Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufhebungsentscheidung ist zulässig und begründet.
1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
Die Antragstellerin ist gemäß § 160 Abs. 2 GWB antragsbefugt. Sie macht geltend, durch die Aufhebungsentscheidung in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB verletzt zu sein. Der Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB ist sie nachgekommen. Die Frist für die Einreichung des Nachprüfungsantrags nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB ist gewahrt.
Das für den hilfsweise gestellten Feststellungsantrag erforderliche besondere Feststellungsinteresse der Antragstellerin ergibt sich aus der nicht auszuschließenden Möglichkeit eines Schadensersatzanspruchs und der Bindungswirkung gemäß § 179 Abs.1 GWB, die ein festgestellter Vergaberechtsverstoß für ein solches gesondert zu führendes Verfahren entfalten würde (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2007, X ZR 18/07).
2. Der Nachprüfungsantrag ist, soweit er sich nicht durch Teilrücknahme des Antrags auf Fortsetzung des Vergabeverfahrens (sog. Aufhebung der Aufhebung) erledigt hat, begründet. Dem von der Antragstellerin zuletzt gestellten Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufhebung sowie Feststellung der Rechtsverletzung ist stattzugeben. Die Antragsgegnerin hat die Ausschreibung aufgehoben, ohne dass die materiellen Voraussetzungen für den von ihr herangezogenen Aufhebungsgrund gemäß § 37 Abs. 1 VSVgV nachgewiesen sind. Die Aufhebung ist insoweit rechtswidrig.
a) Es liegt kein Aufhebungsgrund gem. § 37 Abs. 1 Nr. 4 VSVgV vor. Danach kann ein Vergabeverfahren aufgehoben werden, wenn andere schwerwiegende Gründe bestehen. Bei der Prüfung eines zur Aufhebung berechtigenden schwerwiegenden Grundes sind, da es sich um einen Auffangtatbestand handelt, strenge Maßstäbe anzulegen. Berücksichtigungsfähig sind grundsätzlich nur Mängel, die die Durchführung des Verfahrens und die Vergabe des Auftrags selbst ausschließen, wie etwa das Fehlen der Bereitstellung öffentlicher Mittel durch den Haushaltsgesetzgeber. Ein zur Aufhebung der Ausschreibung Anlass gebendes Fehlverhalten der Vergabestelle kann danach schon deshalb nicht ohne weiteres genügen, weil diese es andernfalls in der Hand hätte, nach freier Entscheidung durch Verstöße gegen das Vergaberecht den bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bestehenden Bindungen zu entgehen (BGH, Beschluss vom 20. März 2014, X ZB 18/13 unter Verweis auf BGH, Urteil vom 12. Juni 2001, X ZR 150/99). Eine Aufhebung kann daher nur rechtmäßig erfolgen, wenn der Aufhebungsgrund nicht vom Auftraggeber selbst schuldhaft herbeigeführt worden ist (vgl. OLG München, Beschluss vom 28. August 2012, Verg 11/12; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. November 2010 - Verg 50/10; Beschluss vom 16. Februar 2005 - Verg 72/04). Der Auftraggeber hat eine Aufhebung zu vertreten, wenn er bei Einleitung des Vergabeverfahrens den Aufhebungsgrund kannte oder kennen konnte. (Hofmann/Summa in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Aufl., § 63 VgV, Rn.21).
Hier hat die Antragsgegnerin bei Einleitung des Vergabeverfahrens das Verhandlungsverfahren als Vergabeverfahrensart in der EU-Bekanntmachung festgelegt, obwohl sie eigentlich ein nicht-offenes Verfahren mit Teilnahmewettbewerb beabsichtigte und dies später in den Vergabeunterlagen den teilnehmenden Bieter auch so kommunizierte. Bei Anwendung der notwendigen Sorgfalt wäre der Fehler vermeidbar gewesen. Die fehlerhafte Bekanntmachung stammt aus der Sphäre der Antragsgegnerin. Sie hat den Aufhebungsgrund zu vertreten. Eine rechtmäßige Aufhebung aufgrund eines anderen schwerwiegenden Grundes nach § 37 Abs. 1 Nr. 4 VSVgV war damit nicht möglich.
b) Die Antragstellerin ist durch die rechtswidrige Aufhebung des Vergabeverfahrens in ihren Rechten verletzt, weil sich die Antragstellerin mit einem Angebot an einem Verhandlungsverfahren beteiligt hat, das nach der Aufhebung gegenstandslos ist. Der Antragstellerin können dabei Aufwendungen für die Erstellung des Angebots und die Teilnahme an dem aufgehobenen Vergabeverfahren entstanden sein (sog. negatives Interesse).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1, 2, 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 VwVfG.
Die Antragstellerin ist nur mit dem ursprünglich hilfsweise auf Feststellung gerichteten Begehren erfolgreich. Das wirtschaftlich vorrangige und mit dem Hauptantrag zunächst verfolgte Ziel, eine Fortsetzung des Vergabeverfahrens herbeizuführen, hat die Antragstellerin durch Teilrücknahme während des Nachprüfungsverfahren mit Schriftsatz vom 10. Februar 2022 aufgegeben. Die Vergabekammer wertet dies mit einer Obsiegens- bzw. Unterliegensquote von 50 %.
Die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten durch die Antragstellerin war notwendig. Vorliegend stellten sich Sach- und Rechtsfragen zur Rechtmäßigkeit einer Aufhebung des Vergabeverfahrens, die eine anwaltliche Vertretung als notwendig erscheinen lassen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2006, X ZB 14/06).
IV.
(
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VK Nordbayern
Beschluss
vom 16.02.2022
RMF-SG21-3194-7-1
1. Hat die Vergabestelle im Bieterinformationsschreiben eine zu kurze Frist gem. § 134 Abs. 2 GWB angegeben, hat die Wartefrist nicht zu laufen begonnen (vgl. OLG Düsseldorf, VPR 2019, 216).*)
2. Für den Rechtsverkehr ist entscheidend, dass die Identität des Vertragspartners erkennbar ist. Maßgeblich ist hierbei der objektive Empfängerhorizont aus Sicht eines mit den Umständen des Einzelfalls vertrauten Dritten in der Lage der Vergabestelle.*)
3. Hat ein Bieter weder in dem hierfür auf Seite 1 des Formblatts L 213 vorgesehenen Adressfeld noch an anderer Stelle im Angebotsschreiben seinen Namen und Anschrift benannt, hat er nicht deutlich und zweifelsfrei zu erkennen gegeben, ob das Angebot überhaupt von ihm stammt und von ihm rechtsverbindlich erklärt wird. Wurde in einem anderen Textfeld des Formblatts L 213 Telefon- und Faxnummer, Umsatzsteuer- und Handelsregisternummer sowie eine E-Mail-Adresse genannt, genügt dies allein nicht, um zweifelsfrei als Bieter identifiziert zu werden. Der Auftraggeber ist nicht dazu verpflichtet - auch bei geringem Aufwand - den Bieter erst anhand bestimmter Angaben selbst zu recherchieren, insbesondere wenn der Auftraggeber ausdrücklich die Erkennbarkeit des Bieters im Formblatt L 213 verlangt hat.*)
4. Ebenso wenig genügt es, dass ein Bieter noch weitere Unterlagen als Anlage mit seinem Angebot eingereicht hat, wenn zum einen die Vergabestelle die Erkennbarkeit des Bieters bereits im Angebotsschreiben verlangt hat und zum anderen der Zuschlagsprätendent auch aus den eingereichten Unterlagen nicht eindeutig als Bieter erkennbar ist, da dort teilweise auch andere Firmen benannt werden.*)
Die Vergabekammer Nordbayern bei der Regierung von Mittelfranken
erlässt auf die mündliche Verhandlung am 16.02.2022 durch den Vorsitzenden ###, den hauptamtlichen Beisitzer ### und den ehrenamtlichen Beisitzer ### folgenden
Beschluss:
1. Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt ist.
2. Es wird festgestellt, dass der mit dem Zuschlag vom 27.12.2021 zwischen der Vergabestelle und der Beigeladenen geschlossene Vertrag über die Leistung "Los 2 ###" (Vergabenummer ###) gemäß§ 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB von Anfang an unwirksam ist.
3. Bei Fortbestehen der Vergabeabsicht wird die Vergabestelle unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer verpflichtet, das Vergabeverfahren in den Stand vor Angebotswertung zurückzuversetzen.
4. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin tragen die Vergabestelle zu 2/3 und die Beigeladene zu 1/3.
5. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die Antragstellerin wird für notwendig erklärt.
6. Die Gebühr für dieses Verfahren beträgt ###,- Euro. Auslagen sind nicht angefallen. Die Vergabestelle ist von der Zahlung der Gebühr befreit.
Sachverhalt:
1. Die VSt veröffentlichte am ### im EU-Supplement im Offenen Verfahren einen Lieferauftrag, der in 3 Lose(### LKW, Kranaufbau, ###) aufgeteilt ist. Das streitgegenständliche Los 2 beinhaltet die Montage eines Kranaufbaus für den LKW-Unterbau. Alleiniges Zuschlagskriterium ist der Preis. Die ASt und die BGL reichten Angebote über die Vergabeplattform ein.
2. Das Leistungsverzeichnis enthält für Los 2 u.a. folgende Anforderungen:
(...)
3. Die Vergabeunterlagen enthalten u.a. das Formblatt L 211 EU, Aufforderung zur Abgabe eines Angebots EU - Lose. Gemäß Ziffer A) ist das Formblatt L 212 EU, Bewerbungsbedingungen EU, zu beachten und gemäß Ziffer C) ist mit dem Angebot das Formblatt L 213, Angebotsschreiben, ausgefüllt einzureichen. In Ziffer 7, Zugelassene Angebotsabgabe, wurde "Elektronisch" und" in Textform" angekreuzt:
"Bei elektronischer Angebotsübermittlung in Textform muss der Bieter zu erkennen sein (...)".
Gemäß Ziffer 3.2 im Formblatt L 212 EU, Bewerbungsbedingungen EU, sind für das Ange bot die vorgegebenen Vordrucke zu verwenden:
"Ein nicht form- oder fristgerecht eingereichtes Angebot wird ausgeschlossen".
Das Formblatt L 213, Angebotsschreiben, enthält auf Seite 1 oben links ein Adressfeld und zentral in Fettdruck "Angebotsschreiben". Es endet auf Seite 3 mit folgenden Passus:
"Ist
- bei einem elektronisch übermittelten Angebot in Textform der Bieter nicht erkennbar,
- ein schriftliches Angebot nicht an dieser Stelle unterschrieben oder
- ein elektronisches Angebot, das signiert/mit elektronischem Siegel versehen werden muss. Nicht wie vorgegeben signiert/mit elektronischem Siegel versehen,
wird das Angebot ausgeschlossen."
4. Das Angebotsschreiben der BGL enthält im Adressfeld keine Angaben. Name und Anschrift werden auch nicht an anderer Stelle genannt. In einem anderen Textfeld wurden u.a. eine Telefon- und Faxnummer, eine E-Mail-Adresse, eine USt.-ID-Nr. und eine HR-Nr. angegeben:
(...)
Neben dem Angebotsschreiben hat die BGL weitere Unterlagen eingereicht u.a. das Formblatt L 1240, Eigenerklärung zur Eignung. Das dortige Textfeld für
"Name, Anschrift und Ust.-ID-Nr. des Unternehmens" wurde mit "### Betriebsstätte ###, ### GmbH, ###-Str. ###, ###, Ust.-ID-Nr . ###"
ausgefüllt.
5. Mit Bieterinformationsschreiben vom 14.1 2.2021 gemäß§ 134 GWB teilte die VSt der ASt mit, dass beabsichtigt sei, den Zuschlag auf das Angebot des Bieters "### Betriebsstätte ###, ### GmbH, ####" am "14.12.2021" zu erteilen. Die ASt habe nicht das wirtschaftlichste Angebot abgegeben.
6. Mit Schreiben vom 21.12.2021 rügte die ASt, dass die BGL nicht in der Lage sei folgende Leistungskriterien zu erfüllen: Sanftes Abbremsen; wartungsarmes Ausschubsystem; Schwenkbereich mind. 420 Grad; Standsicherheitsüberwachung; Neigungsüberwachung.
7. Mit Schreiben vom 21.12.2021 teilte die VSt der ASt mit, dass der Rüge dahingehend abgeholfen werde, dass die VSt die SGI um Aufklärung bitten und nochmal in die Angebotsprüfung einsteigen werde. Sollten die Einwände zutreffen, werde die VSt die Vergabeentscheidung abändern.
8. Mit Schreiben vom 21.12.2021 bat die VSt die BGL hinsichtlich der gerügten Punkten (ausgenommen "wartungsarmes Ausschubsystem) um Aufklärung.
9. Mit E-Mail vom 23.12.2021 trug die BGL in Bezug auf die Anfrage der VSt vor, dass sie die Leistungskriterien erfüllen würde.
10. Mit Schreiben vom 27.12 .2021 teilte die VSt der ASt mit, dass der Rüge mit der Aufklärung abgeholfen worden sei. Die Behauptungen der ASt seien durch die BGL entkräftet worden. Der Zuschlag werde wie beabsichtigt erteilt.
11. Am 27.12. 2021 erteilte die VSt auf das Angebot der "### Betriebsstätte ###, ###GmbH, ###-Straße ###, ###" den Zuschlag.
12. Mit Schriftsatz vom 11.01.2022, bei der Vergabekammer Nordbayern eingegangen am selben Tag, stellten die Verfahrensbevollmächtigten der ASt einen Nachprüfungsantrag und beantragten:
1. gegen den Antragsgegner das Nachprüfungsverfahren gemäß§§ 160 ff. GWB einzuleiten,
2. den Antragsgegner zu verpflichten, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht das Vergabeverfahren in den Zustand vor Angebotswertung zurückzuversetzen,
3. das Angebot der Fa. ### GmbH, Betriebstätte ###, ### von der Angebotswertung auszuschließen und die verbleibenden Angebote unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer erneut zu werten,
4. hilfsweise für den Fall, dass der Vertrag bereits abgeschlossen ist, festzustellen, dass der Vertrag gemäß§ 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB von Anfang an unwirksam ist,
5. festzustellen, dass die Antragstellerin in ihren Rechten aus§ 97 Abs. 6 GWB durch die Angebotswertung unter Aufgabe von Mindestanforderungen zugunsten der Fa. ### GmbH verletzt ist,
6. dem Antragsgegner die Kosten des Nachprüfungsverfahren einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsprechung notwendigen Auslagen der Antragstellerin aufzuerlegen,
7. der Antragstellerin Einsicht in die Vergabeakte gemäß § 165 Abs. 1 GWB zu gewähren,
8. die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die Antragstellerin für notwendig zu erklären.
Der Nachprüfungsantrag sei zulässig. Insbesondere habe die ASt die Vergabeverstöße rechtzeitig nach Erhalt des Vorabinformationsschreiben vom 14.12.2021 mit Schreiben vom 21.12.2021 innerhalb der 10-Tagesfrist nach§ 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB gerügt. Der grob fehlerhafte Inhalt des Vorabinformationsschreiben sei hingegen nicht vorab zu rügen gewesen, denn die ASt habe nicht im Sinne des § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB den Verstoß gegen die 10-tätige Wartefrist aus§ 134 Abs. 2 S. 2 GWB positiv erkannt. Der Nachprüfungsantrag sei innerhalb der 15-Tagesfrist des§ 160 Abs. 3 Nr. 4 GWB eingereicht worden, denn die Frist ende mit Ablauf des 11.01.2022, da das Schreiben der VSt vom 27.12.2021 die endgültige Nichtabhilfe des gerügten Verstoßes enthalte.
Der Nachprüfungsantrag sei begründet. Eine Zuschlagserteilung auf das Angebot der BGL verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 97 Abs. 2 GWB). Das Angebot der BGL erfülle die Mindestanforderungen der Leistungsbeschreibung nicht und müsse wegen Abänderung der Vergabeunterlagen gemäß§ 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV ausgeschlossen werden.
Hilfsweise für den Fall, dass der Antragsgegner den Zuschlag bereits erteilt habe, sei gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 134 GWB festzustellen, dass der Vertragsschluss unwirksam sei. Es liege ein Verstoß gegen die Informationspflicht aus § 134 Abs. 1 GWB und gegen die Wartefrist aus § 134 Abs. 2 GWB vor.
13. Mit Schriftsatz vom 12.01.2022 erwiderte die VSt und beantragt, die Anträge Nrn. 1-8 der Antragstellerin abzulehnen und die Kosten des Nachprüfungsverfahrens zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin nach billigem Ermessen aufzuteilen.
Der Nachprüfungsantrag sei zulässig, jedoch unbegründet. Der Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des Vertragsschlusses sei abzulehnen, da außer dem fehlerhaften Bieterin formationsschreiben keine weiteren Fehler im Vergabeverfahren gemacht worden seien.
Die Information über die frühestmögliche Zuschlagserteilung im Schreiben vom 14.12.2021 sei fehlerhaft gewesen. Die weiteren Informationen gern. § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB seien im Schreiben vom 14.12 .2021 enthalten gewesen. Die Zuschlagserteilung sei am 27.12. 2021 erfolgt, ein Verstoß gegen die Wartepflicht bestehe somit nicht.
Das Angebot der BGL halte die in der Leistungsbeschreibung geforderten Mindestanforderungen ein. Ein Ausschluss des Angebots gern. § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV sei nicht vorzunehmen.
14. Am 20.01.2022 wurde das Unternehmen ### GmbH aus ### zum Verfahren beigeladen.
15. Mit Schreiben vom 26.01.2022 bestätigte die BGL, dass sie mit dem Produkt ihres Partners ### alle in der Ausschreibung geforderten Anforderungen erfülle.
16. Mit Schreiben vom 27. 01.2022 teilte die Vergabekammer den Verfahrensbeteiligten ihre vor läufige Auffassung dahingehend mit, dass die VSt gegen § 134 GWB verstoßen und die BGL kein formgerechtes Angebotsschreiben eingereicht hat. Die Vergabekammer könnte daher nach Aktenlage entscheiden, weshalb der ASt vorläufig keine weitere Akteneinsicht gewährt wird. Die Verfahrensbeteiligten wurden angefragt, ob sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden sind.
17. Mit Schreiben vom 02.02 .2022 teilte die BGL der Vergabekammer mit, dass sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht einverstanden sei.
18. Mit Schriftsatz vom 03.02.2022 schloss sich die ASt der Rechtsauffassung der Vergabekammer, dass die VSt im Vergabeverfahren gegen § 134 GWB verstoßen und die BGL kein formgerechtes Angebotsschreiben eingereicht habe, an.
Die ASt beantragt zuletzt:
1. den Antragsgegner zu verpflichten, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht das Vergabeverfahren in den Zustand vor Angebotswertung zurückzuversetzen,
2. das Angebot der Fa. ### GmbH, Betriebstätte ###, ### von der Angebotswertung auszuschließen und die verbleibenden Angebote unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer erneut zu werten,
3. festzustellen, dass der Vertrag gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB von Anfang an unwirksam ist,
4. festzustellen, dass die Antragstellerin in ihren Rechten aus§ 97 Abs. 6 GWB durch die Angebotswertung unter Aufgabe von Mindestanforderungen zugunsten der Fa. Y GmbH verletzt ist,
5. dem Antragsgegner die Kosten des Nachprüfungsverfahren einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsprechung notwendigen Auslagen der Antragstellerin aufzuerlegen,
6. der Antragsteller in Einsicht in die Vergabeakte gemäß § 165 Abs. 1 GWB zu gewähren,
7. die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die Antragstellerin für notwendig zu erklären.
Die ASt weise der Vollständigkeit halber daraufhin, dass der von der BGL angebotene Kran auch nach dem neuerlichen Vortrag der VSt und der BGL die Mindestanforderungen an die Leistung nicht vollständig erfülle. Die VSt könne die technischen Widersprüche zwischen den hier in Rede stehenden Anforderungen und dem Produkt der BGL nicht aufklären.
19. Am 08.02.2022 hat die Vergabekammer wegen tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten die Entscheidungsfrist gern. § 167 Abs. 1 Satz 2 GWB bis einschließlich 03.03.2022 verlängert.
20. In der mündlichen Verhandlung vom 16.02.2022 hatten die Beteiligten Gelegenheit, sich zur Sache zu äußern.
21. Im Übrigen wird hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach - und Streitstandes auf die Verfahrensakte der Vergabekammer, das Protokoll der mündlichen Verhandlung und die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, Bezug genommen.
Begründung:
Der Nachprüfungsantrag ist zulässig und begründet.
1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
a) Die Vergabekammer Nordbayern ist für das Nachprüfungsverfahren nach § 1 Abs. 2 und § 2 Abs. 2 S. 2 BayNpV sachlich und örtlich zuständig.
b) Die VSt ist öffentlicher Auftraggeber nach § 99 Nr. 1 GWB.
c) Bei den ausgeschriebenen Lieferleistungen handelt es sich um einen öffentlichen Auftrag im Sinne von § 103 Abs. 2 GWB.
d) Der Auftragswert übersteigt den Schwellenwert nach Art. 4 der Richtlinie 2014/24/EU (§ 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB).
e) Die ASt ist antragsbefugt, § 160 Abs. 2 GWB. Sie hat mit der Abgabe eines Angebots ihr Interesse am Auftrag bekundet und eine Verletzung in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch den Zuschlag an die BGL geltend gemacht sowie die Unwirksamkeit des mit der BGL geschlossenen Vertrags wegen Verstoßes gegen § 134 GWB dargelegt. Sie hat vorgetragen, dass die BGL die Mindestanforderungen nicht einhalte und deswegen aus zuschließen sei. Im Rahmen der Zulässigkeit sind an die Antragsbefugnis keine allzu hohen Anforderungen geknüpft.
f) Der Nachprüfungsantrag ist nicht nach § 160 Abs. 3 Satz 1 GWB unzulässig.
aa) Die ASt hat den beabsichtigten Zuschlag auf das Angebot der BGL nach Erhalt der Information gemäß§ 134 GWB am 14.12.2021 mit Schreiben vom 21.12.2 021 rechtzeitig gerügt, § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB.
Eine Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB hinsichtlich des fehlerhaften Zuschlagsdatums im Bieterinformationsschreiben bestand hingegen nicht. Bei der - zum Zeitpunkt des Rügeschreibens - nicht anwaltlich vertretenen ASt kann weder eine positive Kenntnis von dem Fehler noch ein mutwilliges Sich-der-Erkenntnis-Verschließen festgestellt werden. Anhaltspunkte hierzu bestehen nicht und wurden auch nicht von der VSt und der BGL vorgetragen. überdies hätte es nahegelegen, dass die ASt auch diesen Fehler in ihrem bereits erhobenen Rügeschreiben angeführt hätte.
Bezüglich der Zuschlagserteilung an die BGL am 27.12.2021 unter Verstoß gegen die Wartepflicht traf die ASt ebenfalls keine Rügeobliegenheit. Der Zweck der Rüge, auf ein vergaberechtskonformes Vergabeverfahren hinzuwirken, konnte nach Zuschlagserteilung nicht mehr erreicht werden. Mit dem Zuschlag wurde das Vergabeverfahren vorläufig beendet (vgl. OLG Düsseldorf, B.v. 12.06.2019 - Verg 54/18).
bb) Zum Zeitpunkt der Stellung des Nachprüfungsantrags am 11.01.2022 war auch die 15-Tages-Fr ist gemäß§ 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB nicht abgelaufen. Die VSt schreibt zwar in ihren Schreiben vom 21.12.2 021 und 27.12.2021, dass sie der Rüge der ASt durch Aufklärung bei der BGL abhilft bzw. abgeholfen hat, dies stellt vorliegend jedoch gerade keine Abhilfe dar. Nach Ansicht der Vergabekammer stellt das Schreiben der VSt vom 27.12.2021 vielmehr ein Nichtabhilfeschreiben dar. Darin erklärt die VSt, dass die SGI die Behauptungen der ASt entkräften konnte und dass die VSt den Zuschlag wie beabsichtigt erteilen wird. Der Rüge der ASt wurde daher mit Schreiben vom 27.12.2021 endgültig nicht abgeholfen. Die Frist nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB begann daher am 28. 12.2021 und endete mit Ablauf des 11.01.2 022. Mit Eingang des Nachprüfungsantrages am 11.01.2022 wurde die Frist eingehalten.
g) Der bereits auf das Angebot der BG I erteilte Zuschlag vom 27.12.2021 steht der Statthaftigkeit des Nachprüfungsverfahrens nicht entgegen im Sinne von § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB, da der Nachprüfungsantrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des öffentlichen Auftrags gemäß § 135 GWB gerichtet ist (vgl. OLG Düsseldorf, B.v. 19.04.2017 - Verg 38/16; OLG Düsseldorf, B.v. 12.06.2019 - Verg 54/18) .
h) Der Nachprüfungsantrag ist innerhalb der Ausschlussfristen von § 135 Abs. 2 GWB gestellt worden.
2. Der Nachprüfungsantrag ist begründet.
Die VSt hat gegen ihre Informations- und Wartepflicht aus § 134 Abs. 1 und 2 GWB verstoßen und hat die ASt durch die Erteilung des Zuschlags an die SGI gern. § 97 Abs. 6 GWB in ihren Rechten verletzt. Die BGL hat kein formgerechtes Angebot abgegeben, weshalb deren Angebot auszuschließen ist (§ 57 Abs. 1 Nr. 1 VgV). Der zwischen der VSt und SGI am 27.1 2.2021 geschlossene Vertrag über die Montage eines Kranaufbaus ist von Anfang unwirksam.
a) Die VSt hat unstreitig ihre Informationspflicht aus § 134 Abs. 1 GWB verletzt, indem sie im Bieterinformationsschreiben gem. § 134 GWS vom 14.1 2.2021 der ASt mitteilte, dass sie am 14.12.2021 - also bereits am gleichen Tag - beabsichtige, den Zuschlag auf das Angebot der BGL zu erteilen. Sie hätte den Zuschlag gem. § 134 Abs. 2 Satz 2 GWB erst 10 Kalendertage nach Absendung der Information gern. § 134 GWB erteilen dürfen, da sie die Information auf elektronischen Weg versendet hat. Die Frist beginnt am Tag nach der Absendung der Information durch den Auftraggeber, § 134 Abs. 2 Satz 3 GWB. Der früheste Zeitpunkt des Vertragsschlusses wäre daher nicht am 14.12.2021, sondern erst am 25.12.2021 gewesen. § 193 BGB findet hierbei keine Anwendung (vgl. VK Bund, B.v. 28.06.2021, VK 2-77/21).
b) Die VSt hat auch gegen ihre Wartepflicht aus § 134 Abs. 2 GWB verstoßen. Infolge der Angabe einer zu kurzen Frist im Bieterinformationsschreiben vom 14.12.2021 hat die Wartefrist nicht zu laufen begonnen (vgl. OLG Düsseldorf, B.v. 12.06.2019 - Verg 54/18; Ziekow/Völlink, Vergaberecht, § 134 GWB Rn. 90b; Beck'scher Vergaberechtskommentar, Band. 1, GWB 4. Teil, 3. Auflage 2017, § 134 GWB Rn. 63). Der Zuschlag am 27.12.2021 ist daher unter Verstoß gegen die Wartepflicht erteilt worden.
c) Die Zuschlagserteilung an die BGL verletzt die ASt über die Verletzung der Informations- und Wartepflicht des § 134 GWB hinaus in ihren Rechten und beeinträchtigt ihre Zuschlagschancen.
Nach § 57 Abs. 1 VgV sind von der Wertung solche Angebote auszuschließen, die nicht den Erfordernissen des § 53 VgV genügen, insbesondere Angebote, die nicht form- und fristgerecht eingegangen sind, es sei denn, der Bieter hat dies nicht zu vertreten (§ 57 Abs. 1 Nr. 1 VgV).
Gemäß Ziffer 7 der Aufforderung zur Abgabe eines Angebots (Formblatt L 211 EU) ist die die elektronische Angebotsabgabe ohne Signatur (Textform) zugelassen:
"Bei elektronischer Angebotsübermittlung in Textform muss der Bieter zu erkennen sein".
Gemäß Ziffer 3.2 der Bewerbungsbedingungen für die Vergabe von Leistungen (Formblatt L 212 EU) sind für das Angebot die von der Vergabestelle vorgegebenen Vordrucke zu verwenden:
"Ein nicht form- oder fristgerecht eingereichtes Angebot wird ausgeschlossen ".
Gemäß Ziffer C) des Formblatt L 211 EU ist mit dem Angebot u.a. das Angebotsschreiben (Formblatt L 213) ausgefüllt einzureichen.
Bei dem Formblatt L 213 handelt es sich um das sogenannte Angebotsschreiben. Auf Seite 1 links oben im Kopf des Formblatts befindet sich das Adressfeld für "Name und Anschrift des Bieters (Firmenname lt. Handelsregister)". Dieses Textfeld ist bei dem von der BGL eingereichten Formblatt L 213 unstreitig nicht ausgefüllt.
Auf Seite 3 am Ende des Formblatts L 213 steht in Fettdruck:
"Ist bei einem elektronisch übermittelten Angebot in Textform der Bieter nicht erkennbar, (...) wird das Angebot ausgeschlossen."
Hierdurch wurde die BGL mit hinreichender Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass das Angebot ausgeschlossen wird, sollte im Angebotsschreiben der Bieter nicht eindeutig erkennbar sein.
Für den Rechtsverkehr ist entscheidend, dass die Identität des Vertragspartners erkennbar ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Maßgeblich ist hierbei der objektive Empfängerhorizont aus Sicht eines mit den Umständen des Einzelfalls vertrauten Dritten in der Lage der VSt.
Mangels von der BGL vorgenommener Eintragung ihres Namens und ihrer Anschrift in dem hierfür auf Seite 1 des Formblatts L 213 vorgesehenen Adressfeld ist die BGL nicht als Bieter erkennbar. Denn mangels Angabe von Namen und Anschrift - weder im hierfür vorgesehenen Textfeld noch an anderer Stelle im Angebotsschreiben - hat die BGL nicht deutlich und zweifelsfrei zu erkennen gegeben, ob das Angebot überhaupt von ihr stammt und von ihr rechtsverbindlich erklärt wird.
Zwar hat die BGL in einem anderen Textfeld des Formblatts L 213 Telefon- und Faxnummer, Umsatzsteuer - und Handelsregisternummer sowie eine E-Mail-Adresse genannt. Dies allein genügt jedoch nicht, um die BGL bereits zweifelsfrei als Bieterin zu identifizieren.
Nach Ansicht der Vergabekammer ist der Auftraggeber nicht dazu verpflichtet - auch bei geringem Aufwand - den Bieter erst anhand bestimmter Angaben selbst zu recherchieren. Insbesondere wenn -wie hier- der Auftraggeber ausdrücklich die Erkennbarkeit des Bieters im Formblatt L 213 verlangt hat.
Ebenso wenig genügt es, dass die BGL noch weitere Unterlagen als Anlage mit ihrem Angebot eingereicht hat. Zum einen verlangt die VSt die Erkennbarkeit des Bieters bereits im Angebotsschreiben und zum anderen ist die BGL auch aus den eingereichten Unterlagen nicht eindeutig als Bieter erkennbar, da dort teilweise auch andere Firmen (z.B. Firma ### aus ###) benannt werden.
Entgegen der Ansicht der BGL ist es vorliegend auch nicht ausreichend, dass die SGI sich auf dem Porta l registriert hat. Der Bieter muss aus dem Angebotsschreiben erkennbar sein und nicht erst aufgrund sonstiger Umstände überdies ist eine Registrierung im Vergabeportal allein nicht aussagekräftig genug. So kann beispielsweise nur ein Mitglied einer Bietergemeinschaft auf der Plattform registriert sein und nicht die Bietergemeinschaft als Bieter.
Das Angebot der BGL ist daher gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 1 VgV zwingend von der Wertung auszuschließen, weil es nicht formgerecht eingegangen ist und die BGL dies mangels anderweitiger Anhaltspunkte auch zu vertreten hat.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.06.2019 (BGH, U.v. 18.06.2019, X ZR 86/17), die Anzahl der am Wettbewerb teilnehmenden Angebote nicht unnötig wegen an sich vermeidbarer, nicht gravierender formaler Mängel zu reduzieren. Denn vorliegend weist das Angebot der BGL gravierende formale Mängel auf. Das Angebotsschreiben stellt die Grundlage des Angebots dar, denn es enthält eine bindende Erklärung des Bieters über die Angebotsbestandteile. Ist - wie hier - im Angebotsschreiben der Bieter nicht erkennbar, ist für den Auftraggeber der Vertragspartner nicht er sichtlich und es fehlt ein Kernbestandteil des Angebots.
Im Ergebnis wird die ASt als einzig verbleibende Bieterin in ihrer Zuschlagschance beeinträchtigt.
d) Gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB wird festgestellt, dass der zwischen der VSt und der BGL abgeschlossene Vertrag über die Montage eines Kranaufbaus von Anfang an unwirksam ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf§ 182 GWB.
a) Die Verfahrenskosten tragen die VSt zu 2/3 und die BGL zu 1/3, weil sie unterlegen sind, § 182 Abs. 3 S. 1 GWB. Die BGL hat zwar - anders als die VSt - keinen Antrag gestellt, sie beteiligte sich jedoch aktiv am Nachprüfungsverfahren, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, die sie trotz des Hinweises der Vergabekammer explizit einforderte. Allerdings hat die VSt mit dem fehlerhaften Bieterinformationsschreiben und der fehlerhaften Wertung der Angebote (hier: formale Prüfung der Angebote auf der ersten Wertungsstufe) maßgeblich die Entscheidung beeinflusst. Daher erachtet es die Vergabekammer für sachgerecht, der VSt 2/3 der Verfahrenskosten aufzuerlegen.
b) Die Kostenerstattungspflicht gegenüber der ASt ergibt sich aus § 182 Abs. 4 S. 1 GWB.
d) Die Gebühr war nach § 182 Abs. 2 und Abs. 3 GWB festzusetzen. Im Hinblick auf die Angebotssumme der ASt und unter Zugrundelegung eines durchschnittlichen personellen und sachlichen Aufwands der Vergabekammer errechnet sich entsprechend der Tabelle des Bundeskartellamtes eine Gebühr in Höhe von ###, - Euro.
e) Die VSt ist gemäß § 182 Abs. 1 S. 2 GWB i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 VwKostG (in der am 14.08.2013 geltenden Fassung) von der Zahlung der Gebühr befreit.
f) Der geleistete Kostenvorschuss von ###, - Euro wird der ASt nach Bestandskraft dieses Beschlusses zurücküberwiesen.
Rechtsmittelbelehrung:
(...)
Vorgabe für Hauptangebot = Mindestanforderung für Nebenangebot?
Vorgabe für Hauptangebot = Mindestanforderung für Nebenangebot?
OLG Frankfurt, Beschluss vom 15.03.2022 - 11 Verg 10/21
Wertungsentscheidung darf keinem "Auswahlgremium" überlassen werd...
Wertungsentscheidung darf keinem "Auswahlgremium" überlassen werden!
VK Berlin, Beschluss vom 14.03.2022 - VK B 2-40/21
Unterkostenangebot darf auch unterhalb der Aufgreifschwelle aufge...
Unterkostenangebot darf auch unterhalb der Aufgreifschwelle aufgeklärt werden!
VK Berlin, Beschluss vom 25.03.2022 - VK B 2-53/21
Sichere Versorgung darf höher gewertet werden als der günstigste ...
Sichere Versorgung darf höher gewertet werden als der günstigste Preis!
OLG Frankfurt, Urteil vom 10.12.2019 - 11 U 118/19 (Kart)
Wie sind die Gründe für eine Gesamtvergabe zu dokumentieren?
Wie sind die Gründe für eine Gesamtvergabe zu dokumentieren?
VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.09.2019 - 1 VK 51/19
Wertungskriterien müssen vor Öffnung der Angebote feststehen!
Wertungskriterien müssen vor Öffnung der Angebote feststehen!
VK Berlin, Beschluss vom 13.03.2020 - VK B 1-36/19
Höchstlaufzeit beginnt am Tag des Inkrafttretens der Verordnung!
Höchstlaufzeit beginnt am Tag des Inkrafttretens der Verordnung!
EuGH, Urteil vom 19.03.2020 - Rs. C-45/19
Baumfällarbeiten freihändig vergeben: Keine Strafbarkeit wegen Vo...
Baumfällarbeiten freihändig vergeben: Keine Strafbarkeit wegen Vorteilsnahme!
OLG Saarbrücken, Urteil vom 20.02.2020 - 4 U 52/18
Zuschlag nicht erhalten: Kein Rechtsschutz vor dem Verfassungsger...
Zuschlag nicht erhalten: Kein Rechtsschutz vor dem Verfassungsgericht!
VerfGH Berlin, Beschluss vom 26.02.2020 - 20 A/20
Ausschreibungen stehen an: Fernstraßenrechtliche Besitzeinweisung...
Ausschreibungen stehen an: Fernstraßenrechtliche Besitzeinweisung geboten!
VGH Bayern, Beschluss vom 30.01.2020 - 8 CS 19.1145